Adventskranz, Adventskalender und andere vorweihnachtliche Bräuche aus Sicht der Volkskunde

Als Johann Hinrich Wichern am 1. Dezember 1838 im Hamburger Rauen Haus, einem „Rettungshaus“ für verwahrloste und verwaiste Hamburger Kinder und Jugendliche, einen riesigen runden Leuchter mit 24 Kerzen aufhing, ahnte er noch nicht, dass das die Geburtsstunde von gleich zwei Bräuchen war, die heute nicht mehr aus dem Advent wegzudenken sind: der Adventskranz und der Adventskalender. „Beide heutige Bräuche dienen dazu, den Kindern die Adventszeit plastisch vor Augen zu führen. Sie sollen lernen, dass Geduld, Warten und Hoffnung zum Leben dazugehören“, erklärt Christiane Cantauw, Volkskundlerin beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) den Sinn der Bräuche.

Auf dem Weg vom Riesenleuchter zum heutigen Schokokalender oder gefüllten Stiefelchen an der Schnur gab es im 19. und 20. Jahrhundert viele Formen von Adventskalendern, die mit dem heutigen wenig zu tun haben. So stellten viele evangelische Familien für die Kinder ein Adventsbäumchen auf, an das jeden Tag Zettel mit den Weissagungen der Propheten aus der Bibel gehängt wurde, die die Kinder auswendig lernen sollten. „In katholischen Kreisen war eher der Brauch des Strohhalmsteckens verbreitet: Kinder die „artig“ waren, durften jeden Tag einen Strohhalm in die noch leere Krippe legen, um es dem Jesuskind bis zum Weihnachtsfest weich und gemütlich zu machen“, erläutert Cantauw. 

Frühe Formen von Adventskalendern waren auch Strichkalender, bei denen die Kinder jeden Tag einen Kreidestrich weggewischt haben, oder selbstgemachte Abreißkalender, von denen bereits Thomas Mann in den „Buddenbrocks“ berichtet hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden im bayerischen Verlag RLM (Reichhold & Lang, München) die ersten gedruckten Adventskalender herausgegeben. Sie bildeten den Anfang einer wahren Flut von Druckerzeugnissen, deren Bandbreite vor allem seit den 1920er Jahren schier unüberschaubar ist: Hänge- und Wandkalender, Leporellos, Kalender in Form von Hampelmännern, von Uhren oder in Form von Leitern (Himmelsleiter), Adventsbücher, Adventspuzzels, singende Adventskalender, Kalender zum Selberbestücken und dreidimensionale Kalender – um nur einige zu nennen.

Der Adventskranz mit seinen vier Kerzen, die symbolisch für die vier Adventssonntage stehen, ist eine reduzierte Form des Adventsleuchters aus dem Rauen Haus in Hamburg. Er verbreitete sich von den evangelisch-bürgerlichen Schichten ausgehend seit den 1920er Jahren nach und nach auch in katholischen Kreisen, wobei vor allem die Lehrer wesentlich zu seiner Bekanntheit beitrugen, wie sich anhand eines Beispiels aus Borlingshausen (Kreis Höxter), belegen lässt: „Der erste Adventskranz wurde 1930 eingeführt; er kam ins Dorf durch eine junge Lehrerin, die aus Paderborn stammte. In der Schule wurde er unter der Decke aufgehängt. Beim Beginn des Unterrichts wurde die entsprechende Zahl der Kerzen angezündet und dabei ein Adventslied gesungen, danach die Kerzen gelöscht“, heißt in einem Bericht aus dem LWL-Volkskundearchiv

Anfangs wurden die Adventskränze in den Familien noch selbst gewunden, doch wie in Ahaus (Kreis Borken) nahmen sich schon bald „die Gärtner des neuen Brauchtums an, indem sie fertige Kränze fürs Haus anboten“. Ein Gewährsmann des LWL-Volkskundearchivs aus dem Siegerland berichtet aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: „Üblich ist, daß mit dem 1. Advent auch ein Adventskranz geflochten wird. Das tun in der Regel die Mädchen, die noch zur Schule gehen, oder die der Schule entwachsen sind“. Die Gestaltung des Kranzes wie sie ein Sauerländer für die 1930er Jahre beschreibt, war auch andernorts verbreitet: Fichten- oder Tannengrün, rote Kerzen und rote Bänder. „Diese Form des Adventskranzes hat sich erstaunlich lange gehalten“, betont Cantauw. Die Kränze hängte man entweder an einen Deckenbalken oder an einen Ständer, teilweise wurden sie auch auf den Tisch gelegt. Beim Entzünden der Kerzen sag man vielerorts Weihnachtslieder aus den Gesangbüchern. 

Die religiös-christlichen Sinnzusammenhänge der Bräuche Adventskranz und Adventskalender treten nicht erst seit kürzerer Zeit gegenüber anderen Funktionen merklich in den Hintergrund: „Bereits im 19. Jahrhundert läßt sich die Tendenz beobachten, dass das materielle Geschenk immer mehr in den Vordergrund rückte. In Form der mit kleinen Geschenken bestückten Adventskalender wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts dann ein Teil der Weihnachtsbescherung bereits vorweggenommen“, so Cantauw. In der Zeit des Nationalsozialismus geriet die religiös-sprituelle Bedeutung von Adventskalendern und Adventskränzen dann von einer ganz anderen Seite aus unter Druck: „Die Nationalsozialisten haben sich ganz bewusst darum bemüht, den christlichen Charakter des Adventes durch andere Inhalte zu ersetzen. So vermied man beispielsweise die Bezeichnung „Advent“, die allzu deutlich auf christliche Glaubensinhalte anspielte. Ein 1942 erschienener Kalender mit dem Titel „Vorweihnachten“ sollte völkische und germanische Symbole und Bräuche etablieren und so zur Vermittlung der NS-Ideologie betragen. Doch die christlich-religiösen Sinnzuschreibungen ließen und lassen sich nie ganz verdrängen“, erläutert die LWL-Volkskundlerin. 

Quelle: LWL-Presseforum, 28.11.2006

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.