Fotoausstellung zu Dichtern und Denkern im Deutschen Literaturarchiv

In zwei Museen, dem Schiller-Nationalmuseum und dem Literaturmuseum der Moderne, zeigt das Deutsche Literaturarchiv Marbach seine Bestände. Dabei versteht sich Marbach als Experimentierfeld für neue Denk- und Vermittlungsweisen im Umgang mit Literatur. Die große Sonderausstellung »In der Geisterfalle. Ein deutsches Pantheon«, wurde am 11.11.2006 eröffnet und ist bis zum 27.1.2007 zu besichtigen. In sämtlichen Räumen der Beletage des Schiller-Nationalmuseums werden Fotos von Dichtern und Denkern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gezeigt. Mehr als 500 Exponate, ausgewählt aus den etwa 150 000 Sammlungsstücken der Einrichtung, von denen die meisten nie zuvor zu sehen waren, geben einen Eindruck vom Reichtum der Sammlungen des Deutschen Literaturarchivs Marbach, das nicht umsonst als »National Portrait Gallery« der Deutschen gilt.

Ab dem Jahr 2006 stehen die Ausstellungen zum ersten Mal unter einem Jahresthema. Mit der Eröffnung des Literaturmuseums der Moderne liegt das Thema auf der Hand: Zeigen. Was zeigt die Literatur? Wie zeigt sie es? Kann sie und soll sie selbst überhaupt gezeigt werden? Das Jahresthema 2007 heißt: Ordnen. Im Zeichen des Marbacher Jahresthemas 2006 »Zeigen« rückt die Ausstellung eine denkwürdige Begegnung ins Licht: Was passiert, wenn sich das Phantasma des Dichterbildes mit der technischen Bildkunst Fotografie trifft? Als Teil des Dichterkults, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzt und unter anderem zur Gründung des Schiller-Nationalmuseums im Jahre 1903 geführt hat, hat das fotografische Autorenporträt nicht nur das verbreitete Bild vom Dichter geprägt, sondern auch einen Weg zum Verständnis der Literatur vorgezeichnet. Wie keine andere Kunst ist die Literatur von dem Verlangen besessen, ihren schöpferischen Genius zu zeigen; wie keine zweite Kunstform traut sie dem Bild des Urhebers aufschließende Kraft zu. In dem großen biografischen Appetit, der die Literatur begleitet, schlummert der Hunger nach dem Bild des Autors. Lesen ist eine zeitraubende, einsame und asketische Tätigkeit; die sinnlichen Reize, die sie verspricht, realisieren (oder versagen) sich in der Vorstellungskraft des Lesers. Wer aber weiß, wie der Autor aussah, wie sein Auge leuchtete und wie er die Zigarette hielt, der scheint vor jeder Lektüre schon etwas von seinem Werk begriffen zu haben: Die Literatur ist geschlagen mit einem grandiosen physiognomischen Versprechen.

Im Mittelpunkt der Ausstellung »In der Geisterfalle« steht deshalb das Bild des großen Geistes. Jedes Porträtfoto eines Autors, sobald er als ein solcher anerkannt ist, zeigt auf die eine oder andere Weise Spuren des Kampfes, bei dem es darum ging, ihn noch einmal – und diesmal mit fotografischen Mitteln – zur Welt zu bringen. Ihn vor die Linse und zur Erscheinung auf der glatten Fläche des Fotopapiers zu zwingen. Seinen Geist zu beschwören – und mit ihm den Geist der Literatur, den Genius der Schöpfung. Die Methode der Spiritfotografie zitierend, wird der Begriff der »Geisterfalle« zur ironischen Metapher für das Aufeinandertreffen von Dichterverehrung und fotografischer Porträtkunst, die übrigens keinerlei Kunstwollen zur Voraussetzung gehabt zu haben braucht. 

Die Auswahl der hier gezeigten Bilder reicht von Fotografien, deren Arrangement der klassischen malerischen Porträtsitzung entlehnt ist, bis hin zu verspielten Zufallsprodukten, Bildern, wie sie einzig Kindern, Betrunkenen oder Göttern gelingen. Bedeutendes lässt sich nicht zeigen, es enthüllt sich allerdings, und damit dies geschehe, bedarf es nicht nur der Kunst des Fotografen, sondern auch der Gunst des Augenblicks. Häufig genug trennt nur ein Wimpernschlag das Bild, das den Zauber des literarischen Genies einfängt, von dem Bild, in dem sich die vollkommenste Entzauberung vollzieht.

Die vierzehn Bilderreihen der Ausstellung beanspruchen keine kunsthistorische oder literaturwissenschaftliche Objektivität. Sie sprechen von dem Vergnügen, das es bereitet, anhand von Bilderserien Analogien, Anspielungen und verdeckte Hinweise zu entdecken, zu denen das Einzelbild schweigen müsste. Indem sie die Fotos aus ihrem historischen und biografischen Kontext löst, findet diese Ausstellung ihre eigene, bisweilen zarte, ja zärtliche, bisweilen aber auch maliziöse Empirie, die zu eigenen Motivreihen und Bildfamilien drängt. Unversehens ergibt sich so ein verrückter Bilderatlas, der sich in den feinen Variationen seiner Sujets wie in der wilden Komparatistik seiner Serien der Form des Films annähert. Das leise Lachen, das sich nicht unterdrücken lässt, wenn Pathos in (unfreiwillige) Komik umschlägt, entstammt hier den Bildern und Serien selbst. Der Witz liegt im Akt des Verschiebens; er lauert in den Nachbarschaften, von denen die Fotografierten selbst nichts wussten, als sie ihre prätentiösen, raffinierten oder unschuldigen Posen einnahmen. An die Stelle einer List der Vernunft, die sich angeblich in der Geschichte durchsetzt, tritt im Fotoarchiv der Dämon des Missgeschicks, der die intelligentesten Posen und die kunstvollsten Arrangements verzerrt und sie dem Gelächter preisgibt. 

Neben den großen und erhabenen Geistern zeigt die Ausstellung auch die vielen kleinen und unberühmten – auch darin bleibt sie dem Geist des Archivs treu. Nicht jedes der ausgestellten Porträts ist ein Original im strengen Sinn der Fotogeschichte, die zwischen Unikaten, vintage prints und Massenware unterscheidet. Aber jedes dieser Bilder ist ein Original im Bestand der Sammlung und zeichnet sich durch eine besondere Stellung im Nachlass des jeweiligen Dichters aus. Indem es den Archivbestand sichtbar macht, verweist das Pantheon der Dichtergeister auf den letzten Ort des Nachlasses wie auf den ersten Ort der Dichterverehrung.

Info: Zur Ausstellung erscheint das Marbachermagazin 115/116: In der Geisterfalle. Ein deutsches Pantheon: Fotos aus dem Archiv aus drei Jahrhunderten. Von Heike Gfrereis, Ulrich Raulff und Ellen Strittmatter. Mit einem Essay von Sibylle Lewitscharoff. 2006. 140 Seiten, zahlreiche farbige Abb. € 16,-. ISBN-13: 978-3-937384-25-2 / ISBN 10: 3-937384-25-1 

Kontakt
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Schillerhöhe 8-10
71672 Marbach am Neckar
Tel.: +49 7144 848-0
Fax: +49 7144 848-299

Quelle: Pressemitteilung Deutsches Literaturarchiv Marbach, 7.11.2006

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