Die Geschichte der Juden im Getto Litzmannstadt (Lodz) ist längst geschrieben, allerdings nur aus der Außenperspektive. Wie die Menschen selbst ihren Alltag empfunden und gestaltet haben, wie sie auf die Deportationen und die Schikanen durch die Besatzer umgegangen sind, wird erst jetzt bekannt: In ihrer soeben erschienen Bochumer Dissertation hat die Historikerin Dr. Andrea Löw die zahlreichen Selbstzeugnisse von Juden aus dem Getto Litzmannstadt in deutscher, polnischer und jiddischer Sprache erstmals systematisch ausgewertet, um auf dieser Grundlage die Geschichte von Menschen im Getto aus deren Perspektive zu erzählen. Sie untersucht \“Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten\“. Die Arbeit entstand am Lehrstuhl von Prof. Dr. Norbert Frei (Historisches Institut der RUB/jetzt Universität Jena), veröffentlicht wurde sie nun in der "Schriftenreihe zur Lodzer Gettochronik", die gemeinsam von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (Universität Gießen) und dem Staatsarchiv in Lodz herausgegeben wird.
Zumindest die Texte sollten überdauern
\“Viele Schrecknisse gerieten in Vergessenheit. Viele Schrecknisse (Schandtaten) hatten keine Zeugen. Viele Schrecknisse waren derart, daß ihre Darstellung keinen Glauben fand. Aber sie sollen in der Erinnerung leben bleiben.\“ Oskar Rosenfeld schrieb diese Zeilen im Mai 1942 angesichts der Deportation von Juden aus dem Getto Litzmannstadt (Lodz) in das Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) in sein Tagebuch. Der Wiener Schriftsteller, im Herbst 1941 aus Prag ins Getto deportiert, war nur einer von vielen Menschen im Getto Litzmannstadt, die Aufzeichnungen machten, damit Leben und Sterben im Getto nicht in Vergessenheit geraten würde. Innerhalb der jüdischen Verwaltung wurde zu diesem Zweck sogar eigens ein Archiv eingerichtet, in dem vor allem in einer umfangreichen Tageschronik aufgeschrieben wurde, was im Getto geschah. Juden unter nationalsozialistischer Verfolgung wollten dokumentieren, wollten mitbestimmen, wie später an die Verbrechen erinnert wird – zumindest ihre Texte sollten überdauern.
Alltag, kulturelle \“Gegenwelt\“, Liebe und Freundschaft
In der polnischen Stadt Lodz hatten vor dem Einmarsch der Deutschen rund 233.000 Juden gelebt, sie stellten etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Als im September 1939 die Deutschen kamen, sahen sie sich Raubzügen und Schikanen ausgesetzt, wurden im Getto zusammengepfercht. Hunger, Armut, Parasiten und Gestank quälten die Menschen, die auf engstem Raum zusammenleben mussten; nicht wenige Familien zerbrachen an den Zuständen. Viele Bewohner starben an Krankheiten wie Typhus. Aus den Aufzeichnungen der Bewohner erschließt sich die Innensicht des Gettos: Die Menschen beschreiben ihr Leid und seine Auswirkungen, ihre Versuche, dem Gettoleben einen halbwegs erträglichen Alltag abzuringen. Andrea Löw kann zum ersten Mal die Frage danach beantworten, wie die jüdische Bevölkerung die Deportationen erlebt hat: Es war ab einem gewissen Zeitpunkt vielen von ihnen klar, dass die Transporte in die Vernichtung führten. Die Tagebücher und Erinnerungsberichte dokumentieren aber nicht nur den Schrecken des Gettolebens, sondern auch Liebe, Freundschaften und Strategien, aus der Situation das Beste zu machen. Kulturelle Aktivitäten wie Theateraufführungen und Konzerte halfen, den Menschen, eine Gegenwelt zum alltäglichen Grauen aufrecht zu erhalten. Auch gab es, wenn auch wenige, Kontakte nach \“draußen\“ und einen organisierten Schmuggel ins Getto.
Nur nicht resignieren
\“Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden die vielfältigen Versuche der Menschen, nicht zu resignieren, sondern im Gegenteil ihr aufgezwungenes Leben im Getto zu organisieren, um ihre Situation zu verbessern\“, erklärt Andrea Löw. In der mehr als vierjährigen Geschichte des zweitgrößten von den Nationalsozialisten eingerichteten Gettos fielen mehr als 45.000 Menschen den katastrophalen Bedingungen dort zum Opfer, das ist fast jeder vierte der dort Eingeschlossenen. Mit ungeheurem Aktionismus versuchten sowohl die innerjüdische Verwaltung mit Mordechai Chaim Rumkowski an der Spitze, als auch große Teile der übrigen Bevölkerung, unter existenzbedrohenden Bedingungen ihren Alltag zu organisieren und ihrem Leben einen Rahmen zu geben. Die Menschen im Getto schlugen mit ihren Aktivitäten sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft Brücken, schufen sich vor allem durch kulturelle Aktivitäten eine Gegenwelt zur destruktiven Welt des Gettos.
Keine homogene Masse
Gleichzeitig zeigen die Selbstzeugnisse auch, dass die Gettogesellschaft keineswegs eine Einheit war; vielmehr waren starke soziale Konflikte ein Kennzeichen dieser Zwangsgemeinschaft. Auch diese werden in der Untersuchung thematisiert. \“Die Menschen im Getto erscheinen nicht mehr als anonyme, statistisch erfasste \’Opfermasse\’\“, beschreibt Andrea Löw, \“sondern als Individuen mit einer je eigenen Geschichte, als einzelne Menschen mit begrenzten Handlungsspielräumen, die sie auf unterschiedliche Arten nutzten.\“
Info:
Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Göttingen: Wallstein Verlag 2006 (584 Seiten, gebunden, 46,00 Euro, ISBN 3-8353-0050-4).
Kontakt:
Dr. Andrea Löw
Arbeitsstelle Holocaustliteratur
Otto Behaghel-Str. 10 B/1
35394 Gießen
Tel.: 0641-9929083
Fax: 0641-9929094
Andrea.Loew@germanistik.uni-giessen.de
Quelle: uni-protokolle Ruhr-Universität Bochum, 28.8.2006