Das Traunsteiner Studienseminar, 1929 von Kardinal Michael Faulhaber gegründet, war besonders im April 2005 – nach der Wahl Josef Ratzingers zum Papst – in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Denn Ratzinger war von 1939 bis 1943 im Alter von 12 bis 16 Jahren, Schüler dieses Seminars gewesen. Gemeinsam mit seinem Bruder Georg zählt er somit zu dessen bekanntesten Zöglingen.
Um möglichen Spekulationen – besonders von Seiten britischer und amerikanischer Journalisten – einer Verstrickung Ratzingers in das Naziregime entgegenzutreten, ordnete Kardinal Friedrich Wetter, Erzbischof von München und Freising an, dass das Archiv des Seminars erschlossen und für die Forschung gesichert werden solle. Das Ergebnis dieser Arbeit ist jetzt als Band 11 der Schriftenreihe des Erzbistums München und Freising, (erschienen im Verlag Schnell und Steiner, Regensburg), der Öffentlichkeit präsentiert worden. Der Historiker Volker Laube hat in seinem 230 Seiten umfassenden Werk das Seminarleben seit der Gründung und insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus ausführlich dargestellt.
So kann man unter anderem lesen, dass das Nazi-Regime die Schüler verunglimpfte und unter Druck setzte, um sie zum Eintritt in die Hitler Jugend (HJ) zu bewegen. Das stärkste Druckmittel hierbei sollte eine Verknüpfung von ermäßigtem Schulgeld mit dem Eintritt in die HJ im Jahre 1938 sein. Doch auch diese Maßnahme führte zu keinem Erfolg, denn das Erzbistum übernahm die Kosten für die betroffenen Schüler. Nachdem auch mehrere Versuche fehlgeschlagen waren, das Seminar zu schließen, – sie scheiterten am energischen Widerstand Kardinal Faulhabers – ließ erst die Pflichtmitgliedschaft in der HJ im Jahr 1939 den Seminaristen keine andere Wahl. Allerdings war das Seminarleben inzwischen schon weitgehend zum Erliegen gekommen. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde ein Großteil der 135 Seminaristen zur Wehrmacht, zur Luftwaffe und zum Reichsarbeitsdienst einberufen.. Währenddessen wurde das von der Wehrmacht beschlagnahmte Seminar in ein Lazarett umgewandelt.
Wie der Direktor des Archivs der Erzdiözese München und Freising, Peter Pfister, bei der Buchpräsentation am 20. Juli 2006 hervorhob, sei es auf der Grundlage dieser Arbeit nun leichter zu belegen, dass es keine freiwillige Verbindung der Seminaristen zum Nazi-Regime gegeben hat. Ähnlich äußerte sich auch der Direktor des Studienseminars, Thomas Frauenlob, in einem Vorwort zu dem vorgelegten Band. Er betont, dass die Aufarbeitung des Seminararchivs geboten gewesen sei, um „historisch belegbar die Vergangenheit des Seminars zu klären“ und der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung zu stellen. Unmittelbar vor dem Besuch des Papstes in seiner bayerischen Heimat im September dieses Jahres sei durch diese Arbeit die ablehnende Haltung der Seminarleitung und der Schüler gegenüber den Machthabern des Dritten Reiches „zu einer mit Dokumenten belegbaren Tatsache geworden“.
Und auch Volker Laube hob in Bezug auf Papst Benedikt XVI. hervor, dass dessen Entscheidung zum Priestertum in einer Zeit weltanschaulicher Polarisierung und auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus getroffen worden sei. Die neu erforschte Geschichte des Traunsteiner Studienseminars ermögliche somit eine gerechtere Beurteilung der persönlichen Haltung Ratzingers in der NS-Zeit.
Quelle: Erzbistum München und Freising, Pressemeldung, 20.7.2006; Traunsteiner Tagblatt, 21.7.2006