Eine bemerkenswerte Arbeit über die Geschichte der Konfirmation in Westfalen erforscht die Entstehung eines Brauchs: Es geht um den sog. Konfirmationsschein, dessen Vergabe- und Gestaltungspraxis mit einem Akt zentraldirigistischer Steuerung begann. Denn 1828 führte das preußische Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in Preußen einen Konfirmationsschein ein, der den Zugang zu bürgerlichen Rechten regeln sollte. Um 1900 stellte die Vergabepraxis von Konfirmationsbescheinigungen in Westfalen aber bereits eine \“löbliche Sitte\“ dar. Der Konfirmationsschein hatte eine Entwicklung genommen, die den Gebrauchswert für die Konfirmierten vor die Belange staatlicher und kirchlicher Verwaltung stellte. Um dennoch die Rechtsgültigkeit der Konfirmation zu dokumentieren, beschloss die Eisenacher Konferenz, der Zusammenschluss aller evangelischer Kirchenregierungen, im Jahr 1906 die Austeilung einer Bescheinigung \“neben den bisher üblichen Konfirmationsscheinen (Denksprüchen, Erinnerungsblättern)\“. Ausdrücklich wollte man jedoch den Eindruck vermeiden, \“als ob die Absicht etwa auf die Beseitigung des namentlich von der jungen Welt sehr geschätzten, meist künstlerisch ausgestatteten Konfirmationsscheins gerichtet sei\“.
Muster eines Konfirmationsattestes im Kirchenkreis Herford, 1827 (Abbildung aus dem bespr. Band)
In ihrer volkskundlichen Dissertation, die im Jahr 2002 von der Philosophischen Fakultät der Universität Münster angenommen worden ist und deren erster Teil zur Geschichte der Konfirmation seit der Spätaufklärung und zur Tradition des Denkspruchs in den "Beiträgen zur Volkskultur in Nordwestdeutschland" gesondert publiziert wird, untersucht Christine Schönebeck neben dem Einführungsprozess der Konfirmationsscheine weitere Fragen zum kulturgeschichtlichen und geistesgeschichtlichen Kontext dieser Brauchtumsentwicklung. Ausgangspunkt für die Arbeit, die zunächst auf eine umfragebasierte Erforschung der Denkspruchtradition in Westfalen im 20. Jahrhundert im Anschluss an eigene Analysen älterer Konfirmationsberichte (1890-1920) des Archivs für westfälische Volkskunde abgezielt hatte, bildeten die unerwarteten kirchlichen Archivalienfunde aus dem Jahr 1828, deren Einordnung in einen Forschungskontext zur Konfirmationsgeschichte erst noch zu leisten war.
Wie die einzelnen Kapitel der vorliegenden Arbeit dokumentieren, erfolgte der notwendige Forschungsprozess anhand der relevanten Sachkultur und archivalischer Quellen, die Auskunft gaben über den Zeitpunkt und die Wirksamkeit der vom preußischen Staat in Westfalen initiierten Konfirmationsattestvergabe und an denen zu prüfen war, inwieweit die Einführung rechtsgültiger Scheine sowohl die Vergabehandlung als auch die Gestaltung des Geschenks der Gemeinde an die Neukonfirmierten begründete und beeinflusste. Kapitel 3 widmet sich dem Traditionsstrang von Konfirmationsbescheinigungen mit rechtsgültigem Charakter, Kapitel 4 erarbeitet die konkreten, auch regionaltypischen Attestvergabeformen seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bezieht hierbei zunehmend die Perspektive der Nutzer, also der Konfirmierten mit ein. Das Schlusskapitel zeigt dann schlaglichtartig die Entwicklung auf, die die Denkspruchzusagen und Scheinvergaben in Westfalen im 20. Jahrhundert und damit nach der ersten Herausbildung einer brauchgemäßen Handhabung nahmen.
Bald nach der Regierungsverordnung von 1828 war die Einführung der Konfirmationsatteste, die durch die Pfarrer zu übergeben waren, flächendeckend geschehen. So konnte die Mindener Kreissynode 1838 befriedigt feststellen: \“Die Erteilung der Konfirmationsscheine ist ohne Zweifel im allgemeinen Gebrauch\“. In regelmäßigen Gemeindeberichten ließen sich die Synoden jedoch über die korrekte Attestvergabe unterrichten. Betrachtet man die Konfirmationsscheine insgesamt als Quellengruppe, so liefern zwar aus dem Besitz der Konfirmierten überkommene Atteste den einzig sicheren Beweis für deren Austeilung, es mangelt jedoch an Einzelbelegen, um repräsentativere Aussagen über die Etablierung der Vergabe machen zu können. Auch mangelt es an Informationen auf den Attesten, durch die die Gelegenheit der Übergabe ermittelt werden könnte. Als insgesamt gering bewertet die Autorin den Informationsgewinn, der sich isoliert aus der Sachkultur zum Thema erzielten lässt.
Dass die Konfirmationsatteste sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablieren konnten, führt Schönebeck darauf zurück, dass sie in vielen Gemeinden durch besondere Vergabesituationen mit einer anderen Bedeutung aufgeladen wurden. In diesen Fällen verteilten die Prediger die Atteste in brauchgemäßen Abschiedssituationen, die sich um ein letztes Zusammenkommen von Konfirmator und Konfirmanden gebildet hatten, oder sie inszenierten eine Abschiedsszene etwa am Ende des Gottesdienstes neu. Dadurch konnten die Konfirmationsatteste als Mitgaben des Pfarrers aufgefasst und zu Erinnerungsstücken werden.
Info:
Christine Schönebeck:
Denkspruch und Konfirmation. Zur Geschichte der Konfirmation in Westfalen
(Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte; 27) Bielefeld (Luther-Verlag) 2005, 496 S., 36,90 Euro
ISBN 3-7858-0448-2