Die beiden großen Kirchen haben in der NS-Zeit nach Schätzungen von Historikern bis zu 15.000 Zwangsarbeiter beschäftigt. Dabei war der Anteil der evangelischen und der katholischen Kirche etwa gleich groß, so der Kirchenhistoriker Jochen-Christoph Kaiser. Er ist Herausgeber der Studie \“Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie 1939-45\“. Darin sind die Ergebnisse fünfjähriger Forschungen zusammengefasst, die von der Kirche und der Diakonie in Auftrag gegeben wurden.
Durch Nachforschungen, durch Entschädigungen und durch Begegnungen mit den Betroffenen setze sich die evangelische Kirche mit der Geschichte der Zwangsarbeit in kirchlichen Einrichtungen während des 2. Weltkrieges auseinander, schreiben der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, und der Präsident des Diakonischen Werkes der EKD, Jürgen Gohde, in ihrem Geleitwort zum gerade erschienenen Buch „Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie 1939-45“. Der Band präsentiert Regionaluntersuchungen und Fallstudien, die im Auftrag von kirchlichen und diakonischen Einrichtungen durchgeführt worden sind. Er leiste einerseits einen wertvollen Beitrag zur Beschreibung kirchlichen Lebens im Krieg. Andererseits diene die Rekonstruktion und Dokumentation der historischen Tatsachen auch der Rechenschaft gegenüber den Opfern. „Um den Betroffenen zumindest teilweise und wenigstens im Nachhinein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen wir ihr Schicksal in all seinen Aspekten zur Kenntnis nehmen und die Erinnerung daran wach halten.“ Die Menschen, die mit Nummern versehen worden seien, müssten in ihrer individuellen Geschichte wahrgenommen werden. „An die Stelle von Zahlen müssen Gesichter treten.“
Die Deutschen hätten über viele Jahrzehnte vergessen und verdrängt, dass Millionen Frauen und Männern durch Verschleppung aus der Heimat und Zwangsarbeit großes Unrecht angetan wurde. Auch wenn die vorliegenden Ergebnisse kein „schnelles, pauschales Urteil“ zuließen, zeige sich, „dass Zwangsarbeit nicht nur in der Diakonie, sondern auch im Bereich einer Landeskirche erhebliche Ausmaße annehmen konnte.“ Zwangsarbeit sei mit der Würde des Menschen nicht vereinbar, erklären Huber und Gohde. „Indem evangelische Einrichtungen an dem nationalsozialistischen System der Zwangsarbeit partizipierten und davon profitierten, beteiligten sie sich an einem Zwangs- und Unrechtssystem und wurden mitschuldig an den zumeist jungen Menschen, denen durch Zwang, Entmündigung und Erniedrigung Unrecht und Leid zugefügt wurden.“
Die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen Zwangsarbeiter beschäftigt wurden, habe an zahlreichen Orten zur Wahrnehmung der Opfer wie der Täter, zu wechselseitigen Besuchen, zur Errichtung von Mahnmalen und zu ersten Schritten der Versöhnung geführt. Über die Einzahlung von zehn Millionen Mark in die Stiftung zur Entschädigung der Zwangsarbeiter hinaus seien auch andere Wege der materiellen Hilfe gefunden worden. Dabei sei vor allem der persönliche Kontakt wichtig gewesen: „Nicht selten empfanden die Betroffenen es als außerordentlich wichtig, dass Vertreter der Einrichtungen, bei denen sie im Krieg Zwangsarbeit verrichten mussten, sie aufsuchten und ihr Leiden wahrnahmen und würdigten.“
Als langfristige und in die Zukunft gerichtete Aufgabe bleibe die Versöhnung zwischen den Menschen der beteiligten Völker. „Indem wir die Erinnerung an geschehenes Unrecht wachrufen und damit Vergessenes und Verdrängtes sichtbar machen, tragen wir zu den Voraussetzungen für eine neue Partnerschaft mit den Menschen Osteuropas bei, die am meisten unter dem Unrechtssystem der Zwangsarbeit gelitten haben.“
Inhaltsverzeichnis:
- Jürgen Gohde/Wolfgang Huber: Geleitwort (5)
- Jochen-Christoph Kaiser: Zur Einführung (13)
- Hans-Walter Schmuhl: Zwangsarbeit in Diakonie und Kirche (26)
- Hans-Walter Schmuhl: Nordelbien (90)
- Hans-Walter Schmuhl: Mecklenburg (113)
- Hans-Walter Schmuhl: Pommern (136)
- Ulrike Winkler: Der Zwangsarbeitereinsatz während des Zweiten Weltkrieges, die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsen und ihre Innere Mission (153)
- Ulrike Winkler: Der Zwangsarbeitereinsatz während des Zweiten Weltkrieges in der schlesischen Oberlausitz – Beispiele aus der Innere Mission und der Herrnhuter Brüder-Unität (189)
- Ulrike Winkler: Der Zwangsarbeitereinsatz während des Zweiten Weltkrieges, die Ev.-Luth. Landeskirche Thüringen und ihre Innere Mission (205)
- Jens Murken: Zwangsarbeit im Dienst der westfälischen Kirche (220)
- Matthias Benad: Zwangsarbeit in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel während des Zweiten Weltkrieges (235)
- Uwe Kaminsky: "Ich machte alles, was von mir verlangt wurde" – Über das Dienen unter Zwang in Einrichtungen der Evangelischen Kirche und Inneren Mission im Rheinland (251)
- Ulrike Winkler: Die medizinische Versorgung von Zwangsarbeitskräften in den Diakonie-Anstalten Bad Kreuznach (271)
- Lorenz Wilkens: Drei Jahre Forschung zu Zwangsarbeit für Kirche und Diakonie in Berlin und Brandenburg (285)
- Helmut Bräutigam: "Wir beherbergten Angehörige der Ostvölker, Männer vom Balkan …" Fremd- und Zwangsarbeit im Evangelischen Johannesstift 1939 bis 1945 (298)
- Jan Cantow: Ausländereinsatz in den Hoffnungstaler Anstalten Lobetal (1939-1945) (316)
- Jan Cantow: Wandererfürsorge im Bereich von Kirche und Diakonie in Hessen (338)
- Annette Schäfer: Forschungsergebnisse zum Einsatz von Zwangsarbeitern in Einrichtungen der Evangelischen Landeskirche und Inneren Mission in Baden 1939-1945 (359)
- Inga Bing-von Häfen: Zwangsarbeit in Diensten der Evangelischen Landeskirche und ihrer Diakonie in Württemberg (385)
- Inga Bing-von Häfen: Die Beschäftigung von Zwangsarbeitskräften in den Diensten der Ev.-Luth. Kirche in Bayern während des Zweiten Weltkrieges (419)
- Matthias Honold: Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in der Diakonissenanstalt Neuendettelsau (429)
- Claudius Fabian: Evangelische Kirche der Pfalz (439)
- Klaus-Dieter Kaiser: Besuchen – Erinnern – Helfen (444)
- Die Autorinnen und Autoren (458)
- Abkürzungsverzeichnis (459)
- Personenregister (461)
Das Buch „Zwangsarbeit in Kirche und Diakonie 1939-45“ wird herausgegeben vom Marburger Kirchenhistoriker Jochen-Christoph Kaiser und ist im Kohlhammer Verlag erschienen (464 Seiten). Es ist erhältlich unter der ISBN-Nummer 3-17-018347-8 und kostet 22 Euro.
Quelle: EKD-Pressemitteilung 246/2005, 18.11.2005; taz, 19.11.2005