Kein Weißwäscherkongress

Den 75. Deutschen Archivtag in Stuttgart lässt der Berliner Historiker Kurt Pätzold im Neuen Deutschland Revue passieren und vermerkt, dass die Debatte zum Rahmenthema \“Das Archivwesen und der Nationalsozialismus\“ erst in der letzten Sitzung auf den wunden Punkt gebracht wurde. Da widersprach Lorenz Mikoletzky, Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs und Präsident des Internationalen Archivrates, vehement dem Gastredner Wolfgang Ernst von der Berliner Humboldt-Universität, der in den Jahren der Nazidiktatur einen modernisierenden Aufstieg der technisch-handwerklichen Entwicklung der Archivarbeit zu erkennen glaubte.

Mikoletzky bestand darauf, dass fachliche Tätigkeit und deren Zwecke und Ziele eine dialektische Betrachtung erfordern und konsequenten Standpunkt einfordern. Der Wiener Archivdirektor verwies während der Diskussion darauf, dass Archivare in der NS-Zeit mehr oder minder bereitwillig Auskunft über \“arische\“ oder \“nichtarische\“ Herkunft von Personen gaben. Damit wären sie Mittäter gewesen, hätten indirekt geholfen, Juden ihren Mördern auszuliefern. Ihre Schuld mehre auch, dass sich diese Fachleute eines Teils der Habe der Deportierten bemächtigten: der hinterlassenen privaten Familien- oder Geschäftsarchive. Auch im Handwerklichen, so wurde ergänzt, hätten sich Archivare nicht an ihren bis dahin geltenden Kodex gehalten. Die Archivstäbe, die der Wehrmacht in die eroberten Länder von den Niederlanden und Frankreich bis in die Ukraine folgten und im rückwärtigen Heeresgebiet operierten, scherten sich keineswegs um das sonst stets heilig gehaltene Provenienzprinzip. Unter dem Druck der Besatzungsmacht wurden Archive überfallener Staaten geplündert. Solche Feststellungen beendeten den Archivtag, auf dem es jedoch auch Versuche gegeben habe, die Geschichte des Faches und der Zunft zu schönen, wenngleich solche Bemühungen nicht vorherrschend gewesen seien.

Quelle: Kurt Pätzold, Neues Deutschland, 5.10.2005

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