750 Archivarinnen und Archivare aus ganz Deutschland waren diese Woche in Stuttgart zusammengekommen, um erstmals übergreifend die Rolle ihrer Kollegen im Nationalsozialismus kritisch zu beleuchten. Trotz Entnazifizierung hätten viele Nazi-Archivare in der Bundesrepublik und auch in der DDR große Karrieren gemacht, sagte Dr. Robert Kretzschmar vom Hauptstaatsarchiv Stuttgart zum Auftakt des 75. Deutschen Archivtages.
Kretzschmar wurde im Verlauf des Archivtags zum neuen Vorsitzenden des Berufsfachverbandes VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. gewählt. Er folgt damit Professor Dr. Volker Wahl im Amt, dem Direktor des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, der seit 2001 VdA-Vorsitzender gewesen ist. Als Leiter des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs im Landesarchiv Baden-Württemberg ist Dr. Kretzschmar Ansprechpartner für die abteilungsbezogene Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie für übergreifende und Querschnittsaufgaben. Ein inhaltlicher Schwerpunkt seiner Tätigkeit sind die Theorie und Praxis der archivischen Überlieferungsbildung bzw. die Erstellung von Bewertungsmodellen, wie sie unter anderem in dem zunächst von Kretzschmar geleiteten VdA-Arbeitskreis Archivische Bewertung thematisiert werden.
Auf dem diesjährigen Deutschen Archivtag, der in seiner 106-jährigen Tagungsgeschichte nach 1932 erst zum zweiten Mal in Stuttgart stattfand, wurden nicht nur Biografien untersucht, sondern auch Einflüsse der NSDAP auf die Archive. \“Die Archive als wissenschaftliche Institutionen befanden sich im Dritten Reich in keiner unpolitischen Nische, vielmehr leistete der Berufsstand in vielfacher Weise systemkonforme Dienste\“, sagte Kretzschmar, der auch Lehrbeauftragter der Abteilung Landesgeschichte im Historischen Institut der Universität Stuttgart ist. Zwar hätten in den vergangenen Jahren lokale Einzelstudien die Geschichte der Archive aufgearbeitet, aber an einer Gesamtschau fehle es bisher. Nach Darstellung von Kretzschmar spielten die Archive etwa eine wichtige Rolle beim Erbringen von \“Ariernachweisen\“. Sie hätten gezielt Unterlagen zur Diskriminierung und Verfolgung der Juden ermittelt und inventarisiert.
Quelle: Eßlinger Zeitung, 30.9.2005; vgl. auch den Bericht "Namen zu Nummern" in der FAZ, 1.10.2005, 42