Ein Haus für die Geschichte

1971 erhielt Bielefeld mit Reinhard Vogelsang den ersten wissenschaftlich ausgebildeten Archivar zum Leiter des Stadtarchivs. Als der Ltd. Stadtarchivdirektor dann 2002 noch vor Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand verabschiedet wurde, glaubte die Stadt Bielefeld auf eine Wiederbesetzung der wissenschaftlicher Leiterstelle ihres Archivs verzichten zu können. Gegen diese Personaleinsparung erhoben verschiedene Stimmen, nicht zuletzt aus dem Kreis der Fachkollegenschaft anderer Archive der Stadt, öffentlich Protest. Das Stadtarchiv Bielefeld stelle mitsamt seiner Landesgeschichtlichen Bibliothek die zentrale Anlaufstelle für lokal- und regionalgeschichtliche Forschung sowie für private Recherchen dar und besitze eine besondere Bedeutung für den Geschichtsunterricht in den allgemeinbildenden Schulen, so die Argumente der Kritiker. Ihre Einwände verhallten ungehört.

Als Reinhard Vogelsang, seit 1988 auch Honorarprofessor an der Universität Bielefeld, im Mai 2004 zu seinem 65. Geburtstag offiziell pensioniert wurde, überreichten ihm Freunde und Wegbegleiter, Mitarbeiter und Nutzer des Stadtarchivs eine vom Historischen Verein für die Grafschaft Ravensberg verantwortete Festschrift. Ohne im Buch näher auf die denkbaren negativen Folgen der städtischen Personalpolitik für das Archiv und die Stadt einzugehen, macht Johannes Altenberend, Herausgeber der Festschrift und Vorsitzender des Historischen Vereins, in seiner Einleitung aber doch deutlich, dass nun der Verein in der Verpflichtung stehe, „Vogelsangs Ideen weiter auszugestalten, und das heißt vor allem die Selbständigkeit des Bielefelder Stadtarchivs und der Landesgeschichtlichen Bibliothek zu erhalten und das Ansehen dieser städtischen Institution zu erhöhen“ (S. 13f.).

Die Festschrift selbst erfüllt dieses lobenswerte Ansinnen trotz ihres programmatischen Titels („Ein Haus für die Geschichte“) nicht. Das liegt nicht an der Qualität der 27 versammelten Beiträge oder am Umfang des mit über 500 Seiten eindrucksvollen Geschenkes. Als 89. Jahresbericht des Historischen Vereins ordnet sich die Festschrift hingegen dem typischen Profil der Reihe unter, die ohne Oberthema auskommt und Aufsätze zur Geschichte der ehemaligen Grafschaft Ravensberg mit ganz unterschiedlicher inhaltlicher und zeitlicher Ausrichtung vereint. Das ist auch durchaus sinnvoll, um die breite Palette der Vereinsaktivitäten zu dokumentieren. Für die Festschrift Reinhard Vogelsang wäre man angesichts des oben zitierten Postulats jedoch besser vom üblichen Verfahren abgewichen – oder hätte sie außerhalb der Jahresberichte publiziert. In ihrer thematischen Vielfalt erweist sie zwar dem breiten, in einem Schriftenverzeichnis aufgeführten Œuvre des Jubilars (S. 515-518) ihre Referenz. Doch sieht man einmal von der Person Vogelsangs ab und sucht nach Impulsen, die er in seiner Funktion als wissenschaftlicher Leiter des Stadtarchivs nachweislich gegeben hat, wie Jürgen Kocka in seinem Geleitwort betont (S. 9f.), so können die Beiträge des Bandes in der Summe nicht zur Stützung der Selbständigkeit und des Ansehens des Stadtarchivs Bielefeld gleichsam instrumentalisiert werden. Nur die Hälfte der Aufsätze besitzt eine dezidiert auf Bielefeld bezogene stadtgeschichtliche Komponente, und erst nach mehr als 200 Seiten wird erstmals im Band aus Primärquellen des Stadtarchivs gearbeitet und zitiert.

Taugt die Festschrift trotz ihrer Dicke aus konzeptionellen Gründen insofern nicht als schlagender Beweis für die hohe wissenschaftliche Kompetenz und historische Auskunftsfähigkeit, die das Stadtarchiv Bielefeld unter Reinhard Vogelsang erworben hat – und ist der Ruheständler daher gehalten, den längst von ihm erhofften dritten Band seiner Stadtgeschichte bald vorzulegen –, so beinhaltet sie gleichwohl zahlreiche erhellende Abhandlungen. 

Inhalt:

  • Jürgen Kocka: Geleitwort 
  • Johannes Altenberend: Ein Haus für die Geschichte – Das Haus ist für jeden offen. 
  • Daniel Bérenger: Zur Vorgeschichte des heutigen Siedlungsbildes von Steinhagen 
  • Brigitte Brand: Vom blauen Saal zum Backsteinkeller. Zur Entwicklung städtischer Bauformen in Bielefeld 
  • Dieter Lammers: Mittelalterliche und neuzeitliche Spielzeugfunde von der Welle in Bielefeld 
  • Harald Grundmann, Brigitte Brand: Das Bielefelder Sonnenuhrfragment – ein rätselhafter Fund bei den archäologischen Grabungen an der Welle (2000–2002) 
  • Harald Wixforth: Die Gogerichtsbarkeit und die Darstellung von Problemen des bäuerlichen Lebens in Gogerichtsurteilen 
  • Heinrich Rüthing: Der Levitenstuhl von St. Jodokus in Bielefeld 
  • Uwe Standera: Die ravensbergischen Pfarrerfamilien Varenholz 
  • Helmut Hüffmann: Der dänische Überfall auf die Stadt Lübbecke im Jahre 1627 und die Grappendorfschen Forderungen 
  • Roland Köhne: Ein Gebet- und Liederbüchlein der Herforder Äbtissin Hedwig Sophie Auguste (1705–1764) in der Bibliothek des Ratsgymnasiums Bielefeld 
  • Bernd Hey: Schnapsbrennen in Steinhagen – Mäßigkeitspropaganda in Brockhagen 
  • Gertrud Angermann: An ihrem Äußeren sollt Ihr sie erkennen! Silhouetten einer Lippstadt-Bielefelder Kaufmannsfamilie von 1791 und einer
    Müllerfamilie des Kirchspiels Dornberg von 1805 
  • Bärbel Sunderbrink: Zwischen Tradition und bürgerlicher Rationalität. Friedhofsverlegungen im 19. Jahrhundert in Minden-Ravensberg
  • Johannes Altenberend: Die Säkularisation des Bielefelder Franziskanerklosters St. Jodokus. Von der Kloster- zur städtischen Pfarrgemeinde 
  • Frank Konersmann: Kooperation und Konfrontation zwischen protestantischem Unternehmer und katholischer Kirche in Ostwestfalen während des 19. Jahrhunderts 
  • Alfred Menzel: Johann Heinrich Scherr – Bielefelder Pfarrer und ravensbergischer Superintendent 
  • Martin Tabaczek: Ein unchristlicher Streit um das Christliche Gesangbuch 
  • Monika Minninger: Ostwestfälische Vormärz-Flüchtlinge und Forty-Eighters in Nordamerika 
  • Bernd J. Wagner: Armut und Krankheit. Ein Beitrag zur Finanzierung der Krankenhauspflege in Preußen 
  • Jürgen Büschenfeld: Stadt und Umwelt im Industrialisierungsprozeß – Ein Beitrag zur Bielefelder Umweltgeschichte 
  • Karl Ditt: Der „Minden-Ravensberger“ – Zum Wandel eines Sozialstereotyps im 19. und 20. Jahrhundert 
  • Gerhard Renda: Bauen für Bielefeld – der Stadtbaurat Friedrich Schultz
  • Norbert Sahrhage: Zur politischen Kultur in der Stadt Herford in den Anfangsjahren der Weimarer Republik 
  • Harald Propach: Theodor von Sicard (1885–1968). Pfarrer an der Altstädter Nicolaikirche in Bielefeld 
  • Hans-Jörg Kühne: Augenzeugenberichte: Der Großangriff auf Bielefeld am 30. September 1944 
  • Rolf Westheider: Zwei Kriege, ein Denkmal. Die Bielefelder Sondererinnerung des Kriegsgefangenenschicksals 
  • Karl Beckmann: Die Demontage der Firma Arntzen-Leichtbau KG in Brackwede nach dem Zweiten Weltkrieg 
  • Wolfgang Emer, Uwe Horst: Die Region im Geschichtsunterricht. Zur Theorie und Praxis eines didaktischen Konzepts 
  • Schriftenverzeichnis von Reinhard Vogelsang 
  • Autorinnen und Autoren 

Info:
Johannes Altenberend (Hg.): Ein Haus für die Geschichte. Festschrift für Reinhard Vogelsang, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2004 (89. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg, Jahrgang 2004), ISBN 3-89534-529-6, 520 S., geb., 29,00 €.

Jens Murken (Bielefeld)

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