\“Endlich entschlüsselt\“, jubelte der Londoner "Independent" dieser Tage, und meinte damit die altehrwürdige Oxforder Sammlung der Oxyrhynchus-Papyri, denen nun durch eine neue Entzifferungsmethode alsbald umstürzende weltgeschichtliche Erkenntnisse entlockt werden würden (Link). Was aber wirklich geschehen ist und was zu erwarten ist, darüber äußerte sich Joachim Latacz in der FAZ. Latacz ist emeritierter Ordinarius für Griechische Philologie an der Universität Basel und unter anderen Begründer des \“Basler Homer-Kommentars". Seiner ersten Bewertung der bisher überschaubaren Fakten liegen Auskünfte zahlreicher, besonders Oxforder Kollegen zugrunde, darunter auch von Dirk Obbink (Christ Church/Oxford), dem \“General Editor\“ der Oxyrhynchus-Papyri, im zentralen internationalen Papyrologen-Forum \“PAPY-LIST\“ vom 21. April (jetzt zugänglich unter http://groups.yahoo.com/group/textualcriticism/message/745) sowie ein persönlicher E-Mail-Wechsel mit Obbink.
Zwar war schon immer vermutet worden, dass gerade in Ägypten, wo seit etwa 300 vor Christus in Gestalt des \“Museions\“ von Alexandria das Forschungszentrum der Antike lag, noch ungehobene Schätze von beschriebenen Papyrusrollen und -resten im konservierenden Trockensand verborgen liegen müssten. Doch über Zufallsfunde war man lange nicht hinausgekommen. Das änderte sich erst, als einige spektakuläre Funde diverse Reste längst verloren geglaubter griechischer Meisterwerke ans Tageslicht brachten, von denen man bis dahin nur durch spärliche Zitate in der schriftlichen Überlieferung gewusst hatte. Als im Jahre 1855 ein Papyrus 66 Verse aus einem \“Partheneion\“ des Dichters Alkman von Sparta (siebtes Jahrhundert vor Christus) zutage gefördert hatte, begannen sich in Europa wissenschaftliche und private Gesellschaften zum Zwecke der Papyrussuche zu konstituieren. Eine davon war die Londoner \“Egypt Exploration Society\“. Ihr ist die Bergung der bisher größten Einzelmenge von Papyri aus der einstigen Mülldeponie der unterägyptischen griechischen Verwaltungsstadt Oxyrhynchus zu verdanken.
Die etwa 400.000 Papierfetzen – verschmutzt, zerknittert, zerlöchert, oft nur flüchtig abgewaschen und neu beschrieben, als Einkaufstüte, Babywindel und so weiter verwendet und danach entsorgt -, diese Überreste also werden heute in Oxford im Ashmolean Museum verwahrt. Keine andere Institution hat bisher ihren Bestand derart kontinuierlich und systematisch aufgearbeitet, wie es im Falle der Oxforder Sammlung geschehen ist. Seit 1898 der erste Band der Reihe \“The Oxyrhynchus Papyri\“ publiziert wurde, sind 68 Bände mit 4.704 Texten zusammengekommen. Sie stehen in jeder Universitäts- und klassisch-philologischen Seminarbibliothek. Das ist freilich nur etwas mehr als ein Prozent des Oxforder Bestandes.
In der Woche vom 11. bis zum 16. April 2005 hatte nun ein Forscherteam der Brigham Young University aus Utah (BYU) in der Bodleian und der Sackler Library in Oxford Aufnahmen von Papyri mit der Multi-Spectral-Imaging-Technik (MSI) gemacht. Diese Technik v.a. zur Verbesserung der Lesung ist nicht neu, ihre Funktionsweise, die im Internet genauer erläutert wurde (http://www.papyrology.ox.ac.uk/multi/), ist grundsätzlich bekannt. Seit 2002 wurde sie innerhalb eines Sonderprojekts auch an Oxford-Papyri erprobt und weiterentwickelt.
Dirk Obbink stellt klar, dass der Artikel im "Independent" lediglich hätte darlegen sollen, dass man signifikante (und hinreichend spannende) Fortschritte in der Lesung und in der Bestätigung von Identifikationen bei bestimmten Stücken gemacht habe, dass weitere Stücke erstmals identifiziert wurden, davon manche, wie üblich, als (Teile von Werken) bestimmter klassischer Standard-Autoren – während andere nach wie vor komplette Rätsel bleiben. – Die Publikation der neu gelesenen Fragmente kündigt Obbink für die nächsten beiden Bände (Bd. 69 und 70) der \“Oxyrhynchus Papyri\“ an.
Quelle: Joachim Latacz, FAZ, 29.4.2005, Nr. 99, S. 35