Ein Charakteristikum der Wiener Hofburg ist ihre unregelmäßige architektonische Gesamtform – Resultat einer jahrhundertelangen Bautätigkeit. Obwohl es vor allem im 18. und 19.Jahrhundert aufwendige Planungen gab, die eine Vereinheitlichung zum Ziel hatten, wurden diese nie zur Gänze realisiert, sondern die alte Bausubstanz oft in ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild bewahrt. Wollten sich die Habsburger dadurch etwa von den Höfen der neueren Fürstenhäuser, der \“nouveaux riches\“, abheben?
Das ist eine vieler Fragen, mit denen sich Artur Rosenauer, Herbert Karner und ein Team von Kunsthistorikern der Akademie der Wissenschaften beschäftigen. In einem FWF-Projekt wollen 16 Forscher in vier Gruppen (Mittelalter, 16./17. Jahrhundert, 1705-1835 und 1835-1915) die Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg gründlich aufarbeiten. \“Sie ist der größte Profanbau-Komplex Europas und eine der weltweit bedeutendsten Palastanlagen. Diese Relevanz widerspricht in auffallender Weise die mangelnde Würdigung der Residenz durch die Kunstwissenschaften\“, erklärt Karner, der die Gruppe \“16./17.Jahrhundert\“ leitet. Projektleiter Rosenauer kennt den Hauptgrund dafür: \“Wir haben jetzt einmal die Pläne ausgehoben. In der Albertina liegen rund 1000 Pläne, im Staatsarchiv sogar mehr als 8000! Die werden zur Zeit digitalisiert und gesichtet, dann beginnt erst die eigentliche Arbeit.\“
Aus den Plänen sowie aus schriftlichen Quellen werden die Kunsthistoriker dann versuchen, die Funktion der einzelnen, teils nicht mehr bestehenden Bauten zu entschlüsseln. \“Im 16. und 17. Jahrhundert gab es Opernhäuser, Theater, Badehäuser und Gartenanlagen – Dinge von denen wir heute nur mehr durch Quellen wissen.\“ Auch die Ausstattung der Räume, Möbel, Bilder, Teppiche, soll nachvollzogen werden.
Karner: \“Die Funktionsgeschichte zu untersuchen ist sehr spannend. Wieso war etwa ein Badehaus im 16.Jahrhundert ganz wichtig, im 19.Jahrhundert aber nicht mehr? Oder: Wieso wurden die Bibliotheken über den Stallungen gebaut? Das mutet doch heute eigenartig an.\“ Um diese Fragen zu klären, werden auch andere europäische Höfe analysiert. \“So können wir eine Typologie des Gebäudebedarfs einer Residenz im 16./17. Jahrhundert erstellen.\“
Für das 19.Jahrhundert – in der Geschichte der Hofburg gibt es hier noch besonders viele weiße Flecken – ist ein Vergleich mit Dresden interessant. Rosenauer: \“In Dresden wie in Wien war ja mit Gottfried Semper der gleiche Architekt am Werk.\“ Überhaupt spielen europäische Zusammenhänge eine wesentliche Rolle. Rosenauer: \“Beschäftigen wird uns etwa die Frage, wie sehr die Habsburger mit ihrem Repräsentationsaufwand in Konkurrenz zu den anderen europäischen Residenzen standen. Und eben, ob die Habsburger bewusst alte Residenz-Teile nicht abgetragen haben – und damit die Uneinheitlichkeit der Hofburg in Kauf genommen haben. Das wäre ein Weg gewesen, sich durch die Zurschaustellung der eigenen Tradition von anderen Fürstenhäusern abzuheben, die neue und dadurch einheitlich konzipierte Residenzen bauten.\“
Interessant ist für die Kunsthistoriker auch, dass die Hofburg mitten in der Stadt liegt, nicht isoliert wie sonst oft, sondern auch für die Bevölkerung sehr durchlässig. Karner: \“Vielleicht liegt dem ja auch ein anderes Residenzverständnis zu Grunde.\“
Die archäologische Arbeit kann im Projekt nur eine untergeordnete Rolle spielen. Rosenauer: \“Für die mittelalterliche Burg ist natürlich Bauarchäologie zu betreiben. Größere Bodenbewegungen wird es aber nicht geben. Da und dort werden wir Mauerschlitze öffnen müssen, die etwas über mittelalterliche Bauschichten verraten.\“
Mit sensationellen Freskenfunden rechnet niemand. Karner: \“Es ist schon bekannt, dass es Fresken gibt, die sind aber unter späteren Putzschichten verborgen. Und die Ausstattung aus dem 18. und 19. Jahrhundert ist sehr schön – die werden und können wir nicht beseitigen.\“
Die nächsten zwei Jahre werden die Wissenschaftler in Archiven und am Computer verbringen. \“Wir werden Bauphasenpläne erstellen, die in Schnitten von 50 Jahren zeigen werden, wie die Residenz jeweils ausgesehen hat. Dafür und für die noch offenen Digitalisierungsarbeiten suchen wir noch Sponsoren: Scanner, Computer und andere Geräte können wir uns aus dem normalen Forschungsbudget nicht leisten.\“
In rund sechs Jahren soll die Arbeit abgeschlossen sein, eine dreibändige Publikation ist geplant. Rosenauer: \“Das Buch soll höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, sich aber auch an Laien wenden. Außerdem hoffen wir, dass von unserem Projekt auch Impulse für die Forschung in anderen mitteleuropäischen Städten ausgehen, etwa für Prag oder Budapest.\“
Quelle: Daniela Tomasovsky, Die Presse, 25.4.2005