Die Sensation im Pappkarton: Auf dem Dachboden der Bonner Familie Spitta lagen jahrelang unsortiert Partituren und Dokumente des bedeutenden Komponisten Arnold Mendelssohn (1855-1933). Nur: Kaum jemand wusste von dem Schatz, der im Hause des ehemaligen Hilfspredigers der Kreuzkirche aufbewahrt wurde. Später kaufte der Kirchenmusiker Johannes Geffert die Sammlung und lagerte sie im Archiv der Kreuzkirche. Da blieb sie, noch immer unsortiert und ungesehen. Erst jetzt kommen die Dokumente wieder ans Licht.
Zum 150. Geburtstag von Arnold Mendelssohn, eines Großneffen von Felix Mendelssohn-Bartholdy, haben Karin Freist-Wissing, Kantorin an der Kreuzkirche, und ihr Kollege, der Organist Stefan Horz, bisher verschollene oder unbekannte Kompositionen Mendelssohns ausgegraben. Sie werden am 18. Juni in der \“Großen Mendelssohn-Nacht\“ in der Kreuzkirche aufgeführt, zusammen mit Werken seines Großonkels und seiner Großtante Fanny Hensel. Arnold Mendelssohn war von 1880 bis 1883 Musiker an der Kreuzkirche und Akademischer Lehrer an der Universität.
Unter den Raritäten, die am 18. Juni erklingen, ist seine \“2. Sinfonie in C\“, die er 1922 in Darmstadt komponierte und 1924 in Hamburg uraufführte. Seitdem war sie nie mehr zu hören. Grund: Mendelssohns Werke wurden nach seinem Tod 1933 von den Nazis verboten und gerieten dadurch in Vergessenheit. Freist-Wissing will sie nun erstmals wieder präsentieren.
Das bedeutet viel Arbeit. Die Originalpartitur der \“Sinfonie in C\“ liegt im Staatsarchiv in Berlin, die Kreuzkirche besitzt die einzige handgeschriebene Kopie. Sie war vor Jahren einem Musikliebhaber in Duisburg geliehen worden, bei dem sie achtlos im Bücherschrank stand und jetzt hervorgekramt wurde. Nun werden die Noten von Mitgliedern des Sinfonieorchesters der Kreuzkirche für die einzelnen Stimmen abgeschrieben und in einen PC übertragen. Ungenauigkeiten, die der Kopist einfügte (\“Dur- oder Moll-Akkord?\“), werden mit – per Fax aus Berlin geschickten – Seiten der Originalpartitur verglichen. Am Mittwochabend probte das Orchester erstmals die Sinfonie, die Karin Freist-Wissing \“spätromantisch\“ nennt, die manchmal aber auch an \“unheimlich dramatische Filmmusik\“ erinnere. Die Rechte an dem Werk hält die Kreuzkirche, da keine Nachkommen Mendelssohns bekannt sind.
Zu den Sonderheiten, die Karin Freist-Wissing und Stefan Horz präsentierten, gehören auch Skizzen zu Mendelssohns Oper \“Der Bärenhäuter\“, die er in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts nach einem Märchen der Gebrüder Grimm verfasste. Durch eine Indiskretion seines Freundes Engelbert Humperdinck (\“Hänsel und Gretel\“) wurde Siegfried Wagner auf den Stoff aufmerksam und vertonte ihn 1897 ebenfalls. Mendelssohns Oper wurde erst 1900 uraufgeführt. Nur als Fragment vorhanden ist die Ouvertüre zu einer Oper namens \“Schneewittchen\“. Sie wartet auf kongeniale Ergänzung.
Quelle: Dietrich Brockschnieder, Kölnische Rundschau, 22.4.2005