Der Münchner Filmhistoriker Enno Patalas, der schon Fritz Langs „Metropolis“ und „M“ restaurierte, hat jetzt die vollständigste Fassung von Sergei Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ vorgelegt. Seine Arbeit beschreibt er in der WELT.
Ein Ruf wie Donnerhall: Es geht um ein Werk, das wie kein anderes die Vorstellungen geprägt hat, die das 20. Jahrhundert sich vom Film „als Kunst“ machte. Mit „Panzerkreuzer Potemkin“ fand er zu seiner Identität als technisches Medium: ein Konstrukt aus fotografierten und montierten Realitätspartikeln, Mensch (Masse) und Maschine – Triebkräfte ein und desselben dynamischen Prozesses.
Der „Potemkin“ war nie ein „verlorener“ Film. 1958 wählten hundert Filmhistoriker aus aller Welt ihn zum „besten Film aller Zeiten“. Zu sehen war er damals in einer Tonfassung von 1950, in der ein paar Dutzend Einstellungen fehlten oder umgesetzt waren, mit Lenin-Zitaten vorneweg und im Schlußkommentar. In der Bundesrepublik wurden wiederum die Titel ersetzt durch einen Text von Friedrich Luft, der die künstlerischen Meriten des Films pries und seine historischen Implikationen kleinredete.
Anfang 1926, kurz nach seiner Moskauer Premiere, wurde „Potemkin“ erstmals in Berlin gezeigt. Der Regisseur Piel Jutzi hatte aus Eisensteins fünf Akten sechs gemacht, das Drama so zur Chronik verflacht. Kein „Kettenglied der revolutionären Arbeiterbewegung Rußlands“, sondern „eine irgendwie zufällige, untypische Meuterei mit historisch neutralem Hintergrund“, fand Eisenstein.
Im März 1926 verbot die Filmprüfstelle den Film, im April gab sie ihn frei mit 14 Schnittauflagen. Die Änderungen wurden im Originalnegativ des Films vorgenommen, das Goskino dem linken Berliner Verleih Prometheus verkauft hatte. In diesem Zustand kam das Negativ nach Moskau zurück. Die russische Fassung von 1950, mit von Stumm- auf Tonfilmnorm gestreckter Bildfrequenz und einer neuen Musik, respektierte die deutsche Bearbeitung. Zwischentitel wurden neu aufgenommen. Die „Jubiläumsfassung“ von 1976, von Sergej Jutkewitsch, war der bislang bemühteste und gelungenste Versuch, dem Eisensteinschen Original nahezukommen. Dessen Einstellungsfolge wurde wiederhergestellt, Mängel des Gosfilmofond-Materials wurden behoben durch Rückgriffe auf das Duplikatnegativ des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), dem der Eisenstein-Schüler Jay Leyda in den Dreißigern eine Kopie verschafft hatte.
Für die Sicherung des Films in seiner ursprünglichen Form brachte das Jubiläum nichts. 1986 konfrontierte die Frankfurter Junge Deutsche Philharmonie uns im Münchner Filmmuseum mit dem Wunsch, für Aufführungen eine Kopie bereitzustellen. Wir schnitten eine Gosfilmofond-Kopie um, ergänzten sie in großer Eile mit Duplikaten aus dem Londoner National Film Archive und versahen sie mit deutschen Titeln. Das Ergebnis war ein Kompromiß zwischen Eisenstein- und Jutzi-Fassung. Unvergeßlich ist mir der Effekt, den bei der Aufführung in der Münchner Philharmonie das Finale des dritten Akts machte – wenn die von Hand rot gefärbte Fahne am Mast hochsteigt.
Mit der „Berliner Fassung“ bekommt jetzt die Geschichte des „Potemkin“ ein neues Kapitel. Zwar erwies sich die Hoffnung, auf das in Moskau verwahrte Kameranegativ zurückgreifen zu können, als illusorisch – Gosfilmofond befand es für nicht mehr kopierbar. Doch fielen Tests des Bundesarchivs, Abteilung Filmarchiv mit zunächst nur als Ergänzung gedachten Londoner Kopien positiv aus. Das waren vor allem die zwei Kopien der ersten Generation, also direkt vom Kameranegativ gezogen – eine Ende der zwanziger Jahre aus Deutschland importierte und die dem Londoner Archiv vom MoMA überlassene Kopie.
Insgesamt kommt die neue „Berliner Fassung“ auf 1335 Einstellungen, 15 mehr als die bisher vollständigste, die „Jubiläums-Fassung“, 45 mehr als die Gosfilmofond-Überlieferung. Dazu die 146 Vorspann- und Zwischentitel; die 13 in der MoMA-Kopie fehlenden ließen sich nach Moskauer Quellen rekonstruieren, darunter das legendäre Trotzki-Motto: „Der Geist der Revolution schwebte über dem russischen Lande. Irgendein gewaltiger und geheimnisvoller Prozeß vollzog sich in zahllosen Herzen: die Individualität, die eben erst sich selbst erkannt hatte, ging in der Masse und die Masse in dem großen Elan auf.“ Die Sätze könnten Eisenstein das Konzept für seinen Film eingegeben haben.
Quelle: Enno Patalas, WELT.de, 12.2.2005