Zwischen "Mein liebes liebes Muckelchen!" (1903) und "Miriam, Du brichst mir mein Herz!" (2005) liegt gut ein Jahrhundert, doch verbindet diese beiden Anreden das wohl wichtigste Gefühl der Menschheit: Liebe. Seit es Menschen gibt, versuchen diese, ihre Zuneigung in Worte zu fassen. 5.000 Liebesbriefe aus einem Schweizer Archiv bieten die Grundlage für eine ungewöhnliche akustische Ausstellung, die jetzt im Petersburger "Baltischen Haus" Premiere hat.
Weil Liebesbriefe so bedeutend sind für unser Leben, hat die Schweizer Linguistin Eva Lia Wyss über Jahre diese intimen Schreiben gesammelt und so ein Archiv aus inzwischen über 5000 Stück aufgebaut. Ein Teil dieser Briefe wurde von dem Theaterwissenschaftler Mats Staub vertont . Nach dem das Projekt in der Schweiz gut ankam, geht es jetzt mit einigem ins Russische übersetztem Material in Russland auf Tournee.
Am Anfang stand das Habilitationsprojekt der Sprach- und Medienwissenschaftlerin Wyss. Sie wollte Liebesbriefe des 20. Jahrhunderts analysieren. Deshalb rief sie 1997 ihre Mitbürger in Zeitungen auf, Liebesbriefe einzuschicken: Alte oder neue, selbst geschriebene oder erhaltene, Briefe aus dem Nachlass der Großtante oder beim Stöbern auf dem Speicher gefundene. Erstaunlich viele Leute aus der Schweiz und auch aus Österreich und Deutschland schickten daraufhin ihre Briefe: Sei es nun aus Stolz über so schöne Liebesbekundungen, aus der Erleichterung, zur Last gewordene Korrespondenz endlich loszuwerden, ohne sie selbst wegschmeißen zu müssen, oder sei es der bloße Wunsch nach Archivierung, also quasi der Verewigung seiner Gefühle.
Mats Staub nutzte die so entstandene Sammlung für sein Projekt, das er zunächst für das Theater Neumarkt in Zürich arrangierte. Er wählte aus den Unmengen an Liebesbekundungen die schönsten und traurigsten Briefe aus, eben die, die eine interessante Geschichte zu erzählen haben. Am Ende hatte er ein Sortiment von über 600 Briefen aus insgesamt 80 Briefwechseln beisammen. Diese stammen aus allen Zeiten des letzten Jahrhunderts und sind vorgelesen zwischen zwei und 30 Minuten lang. Fast alle sind ungekürzt, jedoch wurden die Namen der Briefeschreiber, und in heiklen Fällen auch die Ortsnamen, geändert.
Als Tonträger entschied sich Staub für Kassetten. Er wollte, dass die Besucher sich wirklich mit den Stücken auseinandersetzen müssen. Dass das Anhören "ein richtiger Vorgang" ist, bei dem man nicht einfach schnell weiter skippen kann, wenn man ungeduldig wird. Passend zu dem inzwischen fast veralteten Medium Kassette wählte Pulli, die für die Raumausstattung zuständig war, nostalgisch anmutende schlichte Kassettenspieler. Je eines dieser Geräte montierte sie in den 15 gemütlichen, gepolsterten Sitzecken, die sie samt dazugehöriger Tischchen aus hölzernen Transportkisten gebaut hatte.
Nach dem Erfolg in der Schweiz ist Staub mit seinem Projekt jetzt in Russland. Mit seiner hiesigen Kollegin Swetlana Marchenko hat er die "Audiobar" im Baltischen Haus aufgebaut. Das Raumkonzept die Theke und die 15 Sitzecken mit Tischchen und Kassettenrekordern ist das gleiche geblieben, nur hat sich die Auswahl an Liebesbriefen verändert. Zum einen ließ Staub 30 der 50 deutschen Kassetten ins Russische übersetzen. Bei dieser Übersetzung musste ein Mittelweg zwischen guter russischer Sprache und der Authentizität der originalen deutschen Texte gefunden werden. Zum anderen begann er, hier in Russland ebenfalls Liebesbriefe der Bürger zu sammeln. Und wieder fanden sich viele Menschen, die bereit waren, etwas zu dem Projekt beizusteuern. Diesmal sprachen Mitarbeiter des Baltischen Hauses erneut Schauspieler wie Laien die Briefe auf Band.
So kann man bei der "Audiobar" in St. Petersburg nicht nur studieren, wie sich die Art der Briefwechsel über die Jahrzehnte verändert hat, oder wie ältere Schreiber im Vergleich zu jüngeren formulieren. Hier kann man nun auch Vergleiche zwischen russischen und deutschen Liebesbekundungen ziehen sofern man der russischen Sprache mächtig ist. Denn die russischen Briefe wurden bislang nicht ins Deutsche übersetzt.
Für die Zukunft plant Staub noch einiges mehr. Zunächst ziehen die 5.000 Liebessbriefe nach Moskau (8. bis 12. März) und Nowgorod (April). Und im Februar 2006, wieder pünktlich zum Valentinstag, wird man vielleicht im Stadttheater Stuttgart den Liebesbriefen lauschen können. Angespornt von den bisherigen Erfolgen würde Staub das Projekt gerne erweitern, wünscht sich Liebesbriefe aus England, Frankreich und Italien, um eine europaweite Sammlung von Liebesbekundungen aufzustellen.
Quelle: Sophie von Merten, sanktpetersburg.ru, 9.2.2005; Weitere Informationen: www.5000liebesbriefe.ch