Nur wer selbst betroffen ist, bekommt Unterlagen, die die Staatssicherheit zu DDR-Zeiten über ihn angelegt hat, zu Gesicht. Dossiers über Personen der Zeitgeschichte sind nur zugänglich, wenn diese ihre Zustimmung gegeben haben. Waren Prominente nicht in das Spitzelsystem verwickelt und verweigern ihre Zustimmung, sind die Unterlagen geschlossen – das gilt erst recht, nachdem Altkanzler Helmut Kohl die weit gehende Sperrung seiner Akte durchgesetzt hat. Was aber passiert, wenn eine Person stirbt? Werden dann deren Akten für immer geschlossen? Auf diese Frage gab der Sprecher der Stasiunterlagen-Behöde, Christian Booß, jahrelang die Antwort:, dass im Birthler-Archiv alles verboten sei, was nicht ausdrücklich erlaubt sei. Und erlaubt war die Weitergabe von Akten Verstorbener bisher nicht.
15 Jahre nach Erstürmung der Stasi- Zentralen durch ostdeutsche Bürgerrechtler ändert sich das jetzt. Das Haus der Bundesbeauftragten Marianne Birthler hat eine Richtlinie erlassen, die am Dienstag auf einem Nutzerforum in Berlin vorgestellt wird. Demnach dürfen Unterlagen von Prominenten und Amtsträgern, die verstorben sind, nach einer Schonfrist von mehreren Jahren zur wissenschaftlichen Nutzung herausgegeben werden. Die Behörde behält sich vor, im Einzelfall zu entscheiden, wie lange diese Frist ist. Je prominenter eine Person, desto kürzer wird diese Dauer sein.
Mit der Herausgabepraxis orientiert sich die Birthler-Behörde an der Arbeitsweise anderer Archive. Im Bundesarchivgesetz ist geregelt, dass Unterlagen 30 Jahre nach dem Tod des Betroffenen oder 110 Jahre nach dessen Geburt eingesehen werden dürfen. Einige Landesarchivgesetze [Übersicht u.a. bei www.augias.net] geben die Akten schon zehn Jahre nach dem Ableben frei. Im Stasiunterlagen-Gesetz ist eine solche Frist nicht vorgesehen. Historiker hatten kritisiert, dass Stasi-Unterlagen immer unzugänglicher werden.
Bei der Herausgabe wird abgewogen zwischen öffentlichem Interesse an der Aufklärung und dem Persönlichkeitsrecht eines Betroffenen. Nach dem Kohl-Urteil galt der Persönlichkeitsschutz als vorrangig, zumal die Stasi ihre Erkenntnisse illegal erworben hatte. Nun hat sich die Behörde mit Juristen der Bundesministerien beraten und ihre Praxis geändert. Die Aufarbeitung erhält dann wieder Vorrang. Erste Unterlagen auf Grundlage dieser Regelung hat die Behörde herausgegeben, etwa die des Dramatikers Heiner Müller oder des Schauspielers Dean Reed.
Die neue Regelung für die Forschung bleibt jedoch auf Prominente beschränkt. Familienforschung anhand von Stasi-Akten bleibe weiterhin tabu, so Herbert Ziehm, der in der Birthler-Behörde verantwortlich für die Akten-Herausgabe ist. Unterlagen von Eltern, die verstorben sind, dürfen Kinder nur einsehen, wenn dies der Aufklärung des Schicksals von Vermissten dient. Auch zur Rehabilitierung, etwa um eine unrechtmäßige Enteignung rückgängig zu machen, stehen die Akten offen. Allerdings müssten die Vorwürfe von damals bei der BirthlerBehörde glaubhaft gemacht werden.
Quelle: Robert Ide, Der Tagesspiegel, 7.2.2005