Jetzt können wir es ja zugeben: Internet wurde in einer hinteren oberen Ecke der Wiener Herrengasse 1 bis 3 erfunden, während die Menschen unten arglos im neuen Café Griensteidl saßen, gewöhnliche Getränke und Speisen zu sich nahmen und über geschichtlich belanglose Begebenheiten redeten.
Oben füllte gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts das Team der Bewerkstelliger der Tageszeitung Der STANDARD die Räume. Wer in diesem Gebäude das falsche Stockwerk erwischte und danach jede Abzweigung versäumte, landete irgendwann unweigerlich im \“Archiv\“. Das schaffte natürlich kaum einer. So waren die \“Archivler\“, wie wir die bibliothekarisch tätigen (und für ihre Trinkfestigkeit bekannten) Kollegen nannten, sehr abgeschiedene, einsame Menschen, die jedoch wenigstens sporadisch die Flucht in die Zivilisation antraten, um uns gewünschte Texte nachzutragen, damit wir wieder etwas zum Abschreiben für die nächste Ausgabe hatten.
Anfang der Neunzigerjahre geschahen merkwürdige Dinge. Wir sahen die Archivler nicht mehr so oft, und wenn, dann erschienen sie uns bleicher und ruheloser als je zuvor. Einigen Herren wucherte das Haar bereits über die Schultern. Notdürftig banden sie es mit Gummiringen zurück. Andere starrten glasig ins Jenseits, als könnten sie Dinge sehen, die uns Irdischen bisher verborgen geblieben waren. Dazu mehrten sich die Gerüchte, dass sich eine besonders eremitische Splittergruppe rund um Anführerin Gerlinde H. in einem der versteckten Räume verschanzt hatte, um – ja, das wussten wir nicht so genau.
\“Um an einer großen Sache zu arbeiten\“, hieß es. Nichts Kriminelles, Revolutionäres, Sektiererisches, nein, eher etwas Völkerverbindendes. Es sollte was mit \“neuer Kommunikation\“ zu tun haben. – Zugegeben, die alte war ohnehin schon ziemlich langweilig. Aber dass sich ausgerechnet die abgeschiedensten Menschen an den exponiertesten Stellen des Hauses ihrer annahmen, war doch verwunderlich.
Ja, und dann wollten wir es wissen. Wir schlichen uns nächtens heran (da immer noch Licht brannte) und lauschten an der Tür: Wir vernahmen nichts als harmlose Tippgeräusche. Wir rochen durch die Nischen: Zigaretten, Kaffee, Bier, Wein, Schnaps – das Übliche. Schließlich stießen wir die Tür auf und trauten weder unseren Augen noch den ihren. Sie saßen hinter ihren Bildschirmen und schauten hinein, jeder still und andächtig für sich allein. Nur die Finger bewegten sich.
\“Was macht ihr da?\“, fragte einer von uns. \“Internet\“, murmelte Gerlinde. Mehr kam da nicht. – Sie waren auf ihre sonderbare Weise im wortkargen Kommunikationsstress.
\“Wo ist es, das Internet?\“, traute sich noch einer der Ahnungslosen bohrend hinzuzufügen. Gerlinde: \“Da drinnen!\“ Sie befreite für Zehntelsekunden einen Mittelfinger vom Keyboard und berührte den Bildschirm. Wir schauten ihr sogleich über die Schultern. Aber da war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Texte, ja Texte sah man, viele Buchstaben, große, kleine, Spalten, Kästchen, kleine Bilderchen, Tabellchen, Rubrikleins. – Aber sonst? Keine Spur von neuer Kommunikation. Wir nickten, sagten ehrfurchtsvoll Danke und gingen.
Wochen später sollten wir es erahnen. Monate später mussten wir es bereits wissen, ja schlimmer noch: selbst beherrschen, oder, wie es gerne heißt: \“bedienen\“ können. Aber restlos begriffen haben es einige von uns (zu denen ich mich zwar nicht stolz, aber tapfer dazuzähle) bis heute nicht: Den Helden um Gerlinde H., Klaus W. und Sascha Z. ist es gelungen, das kostbare Kulturgut \“STANDARD\“ in den Computer hineinzustopfen, und zwar auf solch spektakuläre Weise, dass die Zeitung dabei weltweit gleichzeitig gelesen werden konnte und kann, ohne je aus Papier zu sein und ohne dabei auch nur älter als ein paar Stunden zu werden. Natürlich hat es uns technisch Ungläubigen die Sprache verschlagen. Aber \“Sprache\“ war ohnehin eine überalterte Kommunikation. Heute segeln und surfen wir wortlos in anderen Sphären. Und immer noch stürzen wir manchmal ab. – Mittlerweile aber auch ganz ohne Alkohol.
Dafür danken wir unseren Internet-Pionieren.
Quelle: derStandard.at, 1.2.2005 – ein fröhliches Prost und Helau nach Österreich! Die stellv. Red.