Tag der offenen Tür: Aus der \“verbotenen Stadt\“ ist ein einzigartiges Archiv geworden.
Berlin – \“Ich komme an diesen Ort mit ganz besonderen Gefühlen. Die Erstürmung der Stasi-Zentrale war eine Sensation in der Geschichte. Ich verbeuge mich vor dem mutigen Schritt derjenigen, die damit den Untergang der DDR besiegelt haben.\“ Kulturstaatsministerin Christina Weiss (parteilos) besuchte die Gebäude der ehemaligen Stasi-Zentrale an der Normannenstraße am Samstag zum ersten Mal und zeigte sich tief beeindruckt von den riesigen Aktenbeständen aus Erich Mielkes Hinterlassenschaft. Sie werde Sorge tragen, dass die Akten in \“dem weltweit einzigartigen Archiv\“ bewahrt bleiben, sagte sie.
Worte wie Balsam für Marianne Birthler, die Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde, die dafür sorgt, dass sich die Ministerin in dem gigantischen ehemaligen Geheimlabyrinth nicht verläuft. Noch vor einigen Wochen, als sich Otto Schily entschloss, die Zuständigkeit vom Innenministerium ins Kulturressort zu verlagern, gab es Rätselraten um die Zukunft der Behörde. Am \“Tag der Offenen Tür\“, an dem sich mehr als 4000 Menschen in der einstmals \“verbotenen Stadt\“ zum Gedenken an die Erstürmung der Akten-Festung vor genau 15 Jahren drängen, scheinen die Ängste der Mitarbeiter zumindest für einen Tag verdrängt zu sein.
Gelöste Stimmung auch als die Behördenchefin der Ministerin vorführt, wie dank eines Computers selbst winzige zerrissene Aktenschnipsel als elektronisches Puzzle zu Originalseiten zusammengefügt werden können. \“Per Hand dauert die Schnitzel-Jagd aus den 16 000 Säcken noch 300 Jahre\“, versprüht Marianne Birthler ihren trockenen Humor. \“Per Computer wäre das in fünf Jahren zu schaffen – allerdings bei Kosten von rund 50 Millionen Euro\“. Der diskrete Hinweis trifft – aber Christina Weiss kontert sofort: \“Das Geld habe ich jetzt nicht.\“
Dichtes Gedränge erfüllt derweil Haus eins, die Besucher pilgern gezielt in das zweite Stockwerk: Das holzgetäfelte Büro Erich Mielkes, der damals die Behörde mit 91 000 hauptamtlichen Mitarbeitern befehligte, ist mit seinen drei Telefonen und dem Stahlschrank Anziehungspunkt Nummer eins. \“Mensch, ist das piefig\“, staunt eine knapp 50-jährige Frau. \“Da ist ja ein Arbeitsamt besser ausgestattet.\“
Beim Gedenken an das Ende der DDR- Staatssicherheit wird viel vom \“mutigen Schritt\“ und der \“historischen und einmaligen Leistung der Bürgerrechtler\“ gesprochen. – Die Besetzung der Stasi-Zentrale eine Heldengeschichte? Wohl kaum. Denn eigentlich lief Berlin vor 15 Jahren seiner Zeit hinterher. Bürger hatten in anderen DDR-Städten bereits in das Räderwerk der Übergangsregierung eingegriffen, einer Regierung, die aus der Stasi eine Nasi (Amt für Nationale Sicherheit) machte – eine Einrichtung, die, wie man heute weiß, Akten und Gelder verschwinden ließ. Beim Treffen des Neuen Forums Anfang Januar 1990 in Leipzig bekamen deshalb auch die Berliner Delegierten ihr Fett weg: \“Was ist eigentlich los in Berlin? In der Hauptstadt läuft alles wie bisher, die Stasi arbeitet weiter und ihr haltet still.\“
Dann kam der 15. Januar: An diesem Tag wollte der \“Runde Tisch\“ über die Auflösung der Nasi diskutieren – ein ideales Datum für die Protestaktion im Stasi-Hauptquartier. \“Kommt gewaltfrei und mit viel Fantasie zur Normannenstraße\“, hieß es im Aufruf. Gegen 17 Uhr drängen sich Tausende vor verschlossenen Eisentoren. Plötzlich zieht jemand von innen einen Riegel auf – die Menge strömt herein. Vermutlich von getarnten Stasi-Leuten werden die Demonstranten in den \“Versorgungskomplex\“ abgedrängt. Statt ihrer Akten sehen die meist jungen Leute mit Haifischflossensuppe in Dosen gefüllte Lagerräume. Ein Lebensmittellager wird aufgebrochen, Fensterscheiben gehen zu Bruch, Akten wirbeln durch die Luft, Waschbecken werden herausgerissen, Honecker-Bilder aus den Fenstern geworfen.
In dramatischen Appellen bittet die Regierung in Funk- und Fernsehen : \“Keine Gewalt!\“ Auch Ministerpräsident Hans Modrow eilt in die Normannenstraße. Spontan bildet sich ein Bürgerkomitee. Wachen werden eingerichtet. Doch die Stasi – gut vorbereitet – hatte die wichtigsten Aktenschränke bereits geräumt.
Quelle: Günter Werz, Kölner Stadtanzeiger,17.01.2005