Rainer Blasius hat recht, \“irgendwann\“ muß darüber nachgedacht werden, die Unterlagen des MfS einer \“Endlagerung\“ zuzuführen ("Die Unterlagen der Stasi", F.A.Z. vom 27. Dezember). Die Behörde der Bundesbeauftragten für MfS-Unterlagen, BSTU, ist, daran hat auch 1990 bis 1992 im Gründungsprozeß niemand gezweifelt, von vornherein als eine Institution gegründet worden, die als politische Einrichtung befristet existieren würde. In den gegenwärtigen Debatten um die Behörde wird von den meisten Befürwortern einer relativ raschen Auflösung der Behörde, so auch von Rainer Blasius, suggeriert, die Hauptaufgabe der Behörde hätte in der Erstellung von Gutachten für die Überprüfung des öffentlichen Dienstes und anderer Tätigkeitsbereiche bestanden. Tatsache aber ist, und dies wird merkwürdigerweise weder von Blasius noch in dem \“Nevermann-Papier\“, noch in anderen Stellungnahmen berücksichtigt, daß die Behörde zunächst und vor allem als eine Einrichtung ins Leben gerufen worden ist, bei der Betroffene \“ihre\“ MfS-Akte einsehen können. Das war eine zentrale Forderung der Revolution von 1989/1990. Das hat im Osten wohl kaum jemand vergessen, weshalb es wiederum kein Zufall sein dürfte, daß die gegenwärtige Debatte um die Zukunft der "Birthler-Behörde" fast ausschließlich von im Westen sozialisierten Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern losgetreten wurde und geführt wird vielleicht sogar mit dem Ziel, endlich die weithin im Westen unverstandene und auch nicht angenommene Revolution von 1989 aus dem öffentlichen Raum zu verbannen.
Die \“Birthler-Behörde\“ erhält monatlich 7.000 bis 8.000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht. Das sind im Jahr immer noch fast 100.000 Einsichtswünsche aus Ost und West, über die Hälfte davon jeweils Neuanträge. 100.000 Einsichtswünsche heißt aber auch 100.000 Bürger und Bürgerinnen, die individuell benachrichtigt, betreut und informiert werden müssen. Unabhängig von dem genuin politischen Charakter der Behörde, die der Gesetzgeber so gewollt hat, verweist diese Dimension der Akteneinsichtswünsche aber auch auf die Frage, wo die Akten sinnvollerweise jetzt und noch so lange liegen müssen, solange Bürger und Bürgerinnen \“ihre\“ Akten einsehen wollen. Denn kein reguläres Archiv der Bundesrepublik, ob nun Bundesarchiv oder Landesarchiv, wäre auch nur ansatzweise in der Lage, einen solchen Besucheransturm zu bewältigen, ganz zu schweigen von der fehlenden Kompetenz bei der Beratung und Betreuung, die nicht selten auch psychologische Betreuung einschließt.
Rainer Blasius hat wie viele andere Kritiker gefordert, die Hinterlassenschaften des MfS zu \“regionalisieren\“. Die zentralen Überlieferungen ins Bundesarchiv, die regionalen in die Landesarchive. Diese Forderung, die ursprünglich vom Sächsischen Landesbeauftragten für die MfS-Unterlagen kommt, ist nicht nur von völliger Unkenntnis über die Entstehungszusammenhänge der MfS-Unterlagen gekennzeichnet, sondern ist ein weiterer Beweis dafür, wie ohne ernst zu nehmendes Nachdenken Gewohntes aus der bundesrepublikanischen Demokratiegeschichte auf die Bewältigung der ostdeutschen Diktaturgeschichte übertragen werden soll. Schon in der juristischen Bewältigung der Diktatur scheiterte der Rechtsstaat, soll sich dies nun bei den MfS-Unterlagen wiederholen?
Die MfS-Akten sind in einem strikt und streng zentralistischen Staatsgebilde entstanden, was wiederum seinen Niederschlag in der Aktenbildung selbst fand. Am deutlichsten sichtbar ist dies in den vielschichtigen Karteikarten- und Erfassungssystemen, die heute zu den wichtigsten „Findhilfsmitteln“ bei Recherchen in den Archiven des MfS zählen. Eine Regionalisierung der MfS-Akten, so wie von Blasius und an deren gefordert, wurde de facto bedeuten, die MfS-Unterlagen auseinanderzureißen und innere Zusammenhänge zu zerstören. Ganz zu schweigen von dem Umstand, daß sowohl Betroffene als auch Forscher künftig dann statt einen Anlaufpunkt viele verschiedene anfragen müßten, was weder im Sinne der Akteneinsichtnehmenden noch im Sinne des Fiskus liegen dürfte.
Schließlich bedient Blasius ein Argument, das von vielen Forschern gern und häufig herangezerrt wird, nur daß es dadurch auch nicht stichhaltiger wird. Er meint, die Unterbringung der MfS-Akten im Bundesarchiv und in den Landesarchiven würde günstigere, \“forschungsfreundlichere\“ Bedingungen schaffen. Das stimmt nur in einem sehr marginalen Punkt, nämlich daß der Forscher in seinem Antrag nicht mehr explizit den MfS-Bezug betonen muß, nachweisen mußte ihn ja niemand. Tatsächlich aber wurde durch die Übernahme in Bundes- und Landesarchive zunächst das Sondergesetz Stasiunterlagengesetz außer Kraft gesetzt werden und zugleich die entsprechenden Archivgesetze gelten. Das aber würde keine Verbesserung bedeuten, sondern aller Erfahrung nach eher eine erhebliche Verschlechterung. Die Archivare wären angehalten, Akten zu kassieren, sprich zu vernichten.
Das wäre bei einem Gesamtumfang von 180 Aktenkilometern ein gewaltiges Unterfangen. Wer aber nun behauptet, das sei doch kein Automatismus, der sollte erklären, warum dann Oberhaupt eine Überstellung ins Bundesarchiv respektive in Landesarchive notwendig sei, wenn dann doch alles beim alten bliebe. Denn die naive Annahme, dort würde, bezogen auf die MfS-Akten, wahrscheinlich eine für die Forschung \“freundlichere\“ Atmosphäre herrschen, ist absolut unrealistisch, und das weiß eigentlich jeder, der einmal im Bundesarchiv mit personenbezogenen Unterlagen gearbeitet hat. Da gibt es \“auf einmal\“ nicht mehr nur dreißigjährige, sondern schnell auch neunzig- und hundertzwanzigjährige Sperrzeiten, wenn zum Beispiel Einwilligungen zur Akteneinsicht fehlen. Und genau das wäre die Gefahr, die den MfS-Akten außerhalb des Geltungsbereiches des Stasi-Unterlagen-Gesetzes drohen würde – eine noch restriktivere Verwahrung als bislang. Und das könnte dann nicht nur den MfS-Akten, sondern ebenso den SED-Unterlagen und auch Akten aus der NS-Diktatur blühen.
Ilko-Sascha Kowalczuk (Berlin)
Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Bildung und Forschung der BStU, Berlin.
Quelle: FAZ, 8.1.2005, mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.