Abschiedsbriefe der Lübecker Blutzeugen

Während des 20. Jahrhunderts haben mehr Christen und Christinnen aufgrund ihres Lebenszeugnisses für Jesus Christus einen gewaltsamen Tod erlitten als in den vorangegangenen Jahrhunderten. In der russischen Revolution, unter den Regimen von Nationalsozialismus und Stalinismus und in der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurden sie wegen ihres Glaubens, ihres Einsatzes für verfolgte oder ihnen anvertraute Menschen sowie ihres Widerstands gegen die Diktatur inhaftiert, gefoltert und getötet.

Der evangelische Pastor Karl Friedrich Stellbrink, seit 1934 an der Lutherkirche in Lübeck, wurde zusammen mit den drei jungen katholischen Geistlichen Johannes Prassek, Hermann Lange und Eduard Müller am 10. November 1943 enthauptet. Gemeinsam hatten die vier Geistlichen Predigten des Bischofs von Münster, Graf von Galen, vervielfältigt und verteilt, in denen dieser sich gegen die Vernichtung psychisch und physisch Kranker wandte. Auf Gruppenabenden in der katholischen Herz-Jesu-Kirche war offen über die Sinnlosigkeit des Krieges diskutiert worden. Zusammen mit einigen Laien wurden die vier Geistlichen Anfang April 1942 verhaftet, nachdem Stellbrink nach der Bombardierung Lübecks am 28./29. März 1942 diese in einer Predigt als Strafe Gottes bezeichnet hatte. 

Im Juni 1943 wurden Stellbrink, Prassek, Lange und Müller vom eigens aus Berlin angereisten Volksgerichtshof wegen "landesverräterischer Feindbegünstigung\“, \“Wehrkraftzersetzung\“, Vergehen gegen das \“Rundfunkgesetz\“ und das \“Heimtückegesetz\“ zum Tode verurteilt und im Gefängnis von Hamburg-Hohenglacis mit dem Fallbeil hingerichtet; die Laien bekamen Zuchthausstrafen. 

In den folgenden Monaten ging es um die Frage, ob die Abschiedsbriefe der vier Lübecker freigegeben werden könnten. Es bestand nämlich die Sorge der NS-Justiz, durch eine Verbreitung der Abschiedsbriefe könnten die vier Geistlichen als Märtyrer angesehen werden. So wurden nicht nur Langes und Prasseks an den Osnabrücker Bischof Wilhelm Berning, sondern auch ihre und Pastor Stellbrinks Briefe an die Familien nicht ausgehändigt. Klemens-August Recker entdeckte schon vor einigen Jahren Langes und Prasseks Abschiedsbriefe an Bischof Berning. Aber erst in diesen Tagen fand der Historiker Peter Voswinckel die Briefe Karl Friedrich Stellbrinks und Johannes Prasseks an ihre Angehörigen. Seinen Fund verdankt Voswinckel sowohl der Ordnungsliebe der Nationalsozialisten wie der notorischen Sammelleidenschaft der DDR. Die Briefe lagerten im Zentralen Staatsarchiv Potsdam und liegen nun im Bundesarchiv Berlin in Lichterfelde.

Der Kaplan Johannes Prassek schrieb am Tag seiner Hinrichtung Briefe, die allesamt nicht weitergeleitet wurden. Voswinckel entdeckte alle, und auch einen, der 1970 schon in einer DDR-Publikation verkürzt und ohne Quellenangabe von Luise Kraushaar, einer Mitarbeiterin von Anna Seghers, publiziert wurde. Mit der Entdeckung der Quellen fällt, so bemerkt Martin Thoemmes im Feuilleton der FAZ, eine neue Wendung in der Geschichte des Gedenkens an die Lübecker Märtyrer zusammen. Denn Ende November wird das Seligsprechungsverfahren der drei katholischen Geistlichen eingeleitet, das es in der evangelischen Kirche nicht gibt. Gleichwohl werden evangelische und katholische Kirche anlässlich des Seligsprechungsprozesses eine gemeinsame Stellungnahme herausgeben, in der die Verbundenheit des evangelisch-lutherischen Pastors Stellbrink und seiner drei katholischen Mitbrüder im gemeinsamen Glauben an Christus betont wird.

Quelle: Martin Thoemmes, FAZ, 15.11.2004, 36; BBKL; Ökumenisches Heiligenlexikon

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