Noch bevor die deutschen Juden in den Konzentrationslagern ermordet wurden, raubte man ihnen die materielle Existenz. Zu den wichtigsten Akteuren im Prozess der wirtschaftlichen Ausplünderung der deutschen Juden gehörten die staatlichen Finanzbehörden. Die fiskalische Verfolgung umfasste vor allem steuerliche Diskriminierungen, die Sperrung und Beschlagnahmung von Emigrantenvermögen, Sonderabgaben (insb. die "Judenvermögensabgabe") sowie die Einziehung und Weiterverwertung des Eigentums der Deportationsopfer ("Aktion 3").
Erstmals stellte nun ein seit Sommer 2001 laufendes Forschungsprojekt der Universität München eine Untersuchung zu diesem deutschlandweit bisher wenig beachteten Thema der fiskalischen Judenverfolgung vor. Das 900 Seiten starke Ergebnis der vom bayerischen Finanzministerium angestoßenen und mit rund 375.000 Euro geförderten Forschung verdeutlicht die Methoden der staatlichen Finanzbehörden in diesem Geschehen. Sie lassen sich in zwei Kategorien einteilen: die erste ist die der steuerlichen Diskriminierungen und Sonderabgaben. In diesem Zusammenhang kam es gegenüber Juden zur Außerkraftsetzung zweier zentraler steuerrechtlicher Grundsätze – nämlich die Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen und die Leistungsbezogenheit der Steuern. Den zweiten Bereich der Judenverfolgung bildete der große Komplex der Verwaltung und Verwertung konfiszierten Eigentums von jüdischen Emigranten und später von Deportierten ("Aktion 3"). Hier war die Finanzverwaltung ausführender Arm einer umfassenden staatlichen Ausplünderung.
Das mit dem Forschungsprojekt beauftragte und unter der Leitung von Hans-Günter Hockerts (LMU München) arbeitende Historiker-Trio Axel Drecoll, Christiane Kuller und Tobias Winstel wertete mehrere tausend Akten aus, die bis dahin teils Verschlusssache waren, durchforstete dabei – mit Mundschutz ausgerüstet – verschimmelte Archivbestände in München oder Nürnberg. Dabei versuchten sie genau die Wege der jüdischen Besitztümer nachzuzeichnen, von der Enteignung und Versteigerung bis hin zu ihrer teilweisen Rückgabe nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Profiteur dieses ungeheuren fiskalischen Raubzugs und gleichzeitig zentrale Vermittlungsinstanz war vor allem der Staat. Aber auch weite Kreise der Bevölkerung erzielten ihren Vorteil. Was das Finanzpräsidium oder öffentliche Einrichtungen selbst nicht verwenden konnten, wurde von den Stadtverwaltungen verkauft.
Link: Projekt \“Die Finanzverwaltung und die Verfolgung der Juden in Bayern\“ an der LMU München:
http://www.geschichte.uni-muenchen.de/ngzg/hockerts/forschung_finanzverwaltung.shtml
Kontakt:
Prof. Dr. Hans Günter Hockerts
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Quelle: Julia Lenders (dpa), Stern, 12.11.2004; Christiane Kuller: Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Antisemitische Fiskalpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 2, 13.09.2004.