In der bis zum TAG DER ARCHIVE am 25. September erscheinenden Serie der Thüringischen Landeszeitung \“Das redende Blatt\“ stellt Wolfgang Altechel, Mitarbeiter im Goethe- und Schiller-Archiv das 5. Rätsel:
Es ist für jeden Dichter zweifellos eine Ehre, mit Goethe verglichen zu werden. Gegen Ende von Eduard Mörikes Lebenszeit gab es sogar Stimmen, die den schwäbischen Dichter über den Weimarer Olympier stellten. Friedrich Nietzsche notierte dazu im Sommer 1875, offenbar kurz nach Mörikes Tod, in ein Studienheft: \“Da lese ich, daß gar Mörike der größte deutsche Lyriker sein soll! Ist es nicht ein Verbrechen dumm zu sein, wenn man hier also Goethe nicht als den größten empfindet oder empfinden will? – Aber was muß da nur in den Köpfen spuken, welcher Begriff von Lyrik! Ich sah mir darauf diesen Mörike wieder an und fand ihn, mit Ausnahme von 4-5 Sachen in der deutschen Volkslied-Manier, ganz schwach und undichterisch. Vor allem fehlt es ganz an Klarheit der Anschauung.\“
Die Nachwelt hat sich diesem Verdikt in der Mehrheit nicht angeschlossen. Und auch Goethe, hätte er Mörikes Gedichte gekannt, wäre möglicherweise zu einer anderen Einschätzung gelangt.
Mörike freilich hat Goethe mit Bewunderung gelesen, hat sich mit ihm schon früh als einem Vorbild auseinandergesetzt – und ist schließlich eigene dichterische Wege gegangen. Er nennt und zitiert ihn häufig, vor allem in den Briefen finden sich immer wieder Aussagen zu seiner Beschäftigung mit Goethe. Sich selbst an den Großen in Weimar zu wenden, hat der zurückhaltende junge Dichter offenbar nicht gewagt. Das blieb seinem Bruder August vorbehalten, der als Sechzehnjähriger in einem Brief vom 4. März 1823 \“dem besten unserer deutschen Dichter, Goethe\“ seine verehrende Aufwartung machte, ohne allerdings die erbetene Antwort mit Namenszug zu erhalten.
Im Juni 1847 erfüllte der Verleger Georg von Cotta seinem Autor Mörike einen besonderen Wunsch. Er schickte ihm die 1840 in seinem Verlag erschienene vierzigbändige Ausgabe der sämtlichen Werke Goethes im Taschenformat. Mörike scheint diese Ausgabe nahezu vollständig durchgearbeitet zu haben. Davon zeugen die am Schluss jeden Bandes handschriftlich eingetragenen Bemerkungen. Sie waren dem Dichter so wichtig, dass er auf dem Vorsatzblatt des ersten Bandes die Verfügung traf, die Ausgabe solle aus seinem Nachlass nicht veräußert werden.
Besonderes Augenmerk fand Goethes Lyrik bei Mörike. In den Gedichtbänden der Ausgabe sind Blätter eingeschossen, auf denen er eigenhändig frühere Fassungen von Gedichten neben die abgedruckte Version stellte. Auch das Inhaltsverzeichnis weist Lesespuren auf. Einzelne Gedichte sind durch Anstreichungen hervorgehoben.
Zu diesen Gedichten Goethes zählt auch eines, von dem sich eine eigenhändige Abschrift Mörikes im Nachlass erhalten hat. Der Text ist nicht vollständig, Mörike greift vielmehr aus der Mitte des dreistrophigen Gedichts vier Verse heraus und schließt an sie unmittelbar die beiden Schlussverse an.
Seine Auswahl suggeriert demnach ein abgeschlossenes Gedicht: \“Lieber durch Leiden / Möcht` ich mich schlagen / Als so viel Freuden / Des Lebens ertragen / Glück ohne Ruh / Liebe bist du!\“
Hatte Goethe in seinem Gedicht Lust wie Leid der Liebe beschworen, erweckt Mörike mit den ausgewählten Versen den Eindruck, als sei Verzicht in der Liebe wesentlich und dem beglückten Erleben vorzuziehen.
Wer die Biographie Eduard Mörikes kennt, wird die getroffene Vers-Auswahl nicht als einen bloßen Zufall ansehen, sondern als Ausdruck einer zutiefst persönlichen Lebenserfahrung und Lebenshaltung.
Die Frage des 5. Rätsels lautet: Wie heißt der Titel des Goetheschen Gedichtes? Für das Lösungswort ist der zweite Buchstabe des zweiten Wortes zu notieren. Das komplette Lösungswort ist bis zum 30.9.2004 an die TLZ-Kulturredaktion, Marienstraße 14, in 99423 Weimar zu senden.