Alkohol – Sünde oder Sucht?

Das Themenjahr 2004 der ostwestfälisch-lippischen Museen, das unter dem Oberthema „Mahlzeit! Kultur des Essens und Genießens“ steht, wartet mit einem vielfältigen Programm auf. Gleich zu Beginn präsentierten die drei kirchlich-diakonischen Archive in Bielefeld im Historischen Museum Steinhagen, also an denkbar passendem Orte, eine gemeinsam realisierte Wanderausstellung unter dem Titel „Alkohol – Sünde oder Sucht?“ Die Ausstellung soll „die Entwicklung kirchlicher und diakonischer Suchtbekämpfung im Kontext zeitgeschichtlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen“ zeigen, vor allem anhand der Entwicklung von Enthaltsamkeitsvereinen zu Institutionen und der Veränderung der Einschätzung des Alkoholismus.

Im Begleitheft zur Ausstellung widmen sich einleitend Bernd Hey und Matthias Rickling der Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitspropaganda in evangelischen Kirchengemeinden. Dabei stellen die Autoren zunächst heraus, dass die Kirche, die seit jeher das Leben der Menschen in weiten Bereichen reglementiert habe, im Trinken vor allem deshalb eine große Gefahr gesehen hätte, weil vor allem Sonn- und Feiertage Gelegenheit zum übermäßigen Alkoholkonsum geboten hätten, mit dementsprechenden Auswirkungen auf die Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen. Auf der anderen Seite habe der Alkohol, als anerkanntes Stärkungs- und Heilmittel und als wichtiger Bestandteil des kirchlichen Ritus nicht völlig verteufelt werden können. Im Anschluss wird zunächst die Geschichte der ersten Mäßigkeitsbewegung geschildert, die vor allem vor dem Hintergrund betrachtet werden müsse, dass im Zuge der Industrialisierung der Schnaps wesentlich billiger und damit zum „Getränk des Volkes“ geworden sei. Ausgehend von den USA habe sich dann ab den 1820ern eine aktive Mäßigkeitsbewegung entwickelt, im ostwestfälischen Raum vor allem durch die pietistische „Erweckungsbewegung“ getragen. Einzelne Beispiele erläutern die Funktionsweise und Regelungen verschiedener Bewegungen in einzelnen Orten. Bis 1847 habe die deutsche Mäßigkeitsbewegung eine wahre Welle der Begeisterung ausgelöst, bei über einer Million Mitgliedern in 1200 Vereinen; im Zuge der Revolution habe die von religiösen und moralischen Zurechtweisungen geprägte Bewegung aber ihre Bedeutung verloren. Der Bewegung sei es vor allem darum gegangen, eine umfassende Disziplinierung der entstehenden proletarischen Massen zu erreichen, die als anfällig für den Alkohol galten. Begonnen habe die Bewegung als karitative Reaktion zur Wahrung der Sitten, im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung sei aber eine ökonomische Argumentation in den Vordergrund getreten. Die zweite Welle der Mäßigkeit sei wiederum im Zusammenhang mit dem steigenden Alkoholkonsum der Arbeiterschaft während der Industrialisierung aufgekommen. Dabei sei der Alkoholkonsum vor allem als Ursache für die Armut vieler Arbeiter identifiziert worden, eine heute klar erkennbare Verkehrung von Ursache und Wirkung. Zu dieser Zeit habe sich aber das Trinken als fester Bestandteil von Geselligkeit und Kultur etabliert, so dass den Enthaltsamkeitsbewegungen nur zu oft mit Spott und Hohn begegnet worden sei. Zudem habe sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Konsum unter den Arbeitern drastisch reduziert, nachdem sich nach und nach die negativen Wirkungen auf die Arbeitskraft herausgestellt hatten.

Nach dieser ausführlichen Einführung in die Geschichte der frühen Mäßigkeitsbewegungen widmet sich Kerstin Stockhecke den Trinkerheilstätten in Bethel bis zum Ersten Weltkrieg. Die 1867 in Bielefeld gegründete Anstalt Bethel, heute unter dem Namen v. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel bekannt, habe neben der ursprünglichen Aufgabe nach und nach neue Arbeitsfelder übernommen, unter anderen auch die Trinkerfürsorge. Der damalige Leiter der Anstalt, Friedrich von Bodelschwingh, habe durch die Erfahrungen mit der von ihm gegründeten ersten deutschen Arbeiterkolonie erfahren müssen, dass unter den arbeits- und obdachlosen Wanderern zahlreiche Alkoholiker gewesen seien. Vor diesem Hintergrund seien in Bethel mehrere Häuser zur Trinkerfürsorge entstanden. Die Behandlungsmethoden bestanden in dem völligen Verzicht auf Alkohol für die Dauer der Behandlung von neun bis zwölf Monaten, dem Einsatz der Patienten bei der Arbeit, die gleich noch dazu beigetragen habe, die Behandlung zu finanzieren, und auch die Religion und die Hinwendung zum christlichen Glauben hätten dabei eine wichtige Rolle gespielt. Der medizinische Aspekt habe erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Rolle gespielt, als Alkoholismus mehr und mehr als Krankheit identifiziert worden sei. Abschließend stellt Kerstin Stockhecke die Probleme der Trinkerfürsorge in Bethel heraus, die vor allem darin bestanden, dass es keine Möglichkeit gab, die Behandelten zum Bleiben zu zwingen und sich um das Gelände der Anstalt zahlreiche Kneipen befunden hätten. Auffällig sei zudem die geringe Größe diese Aufgabenbereichs in Bethel, die möglicherweise eine Profilbildung verhindert habe.

Bärbel Thau erläutert nur sehr kurz die Geschichte der Trinkerfürsorge des Ortsverbandes für Innere Mission in Bielefeld, die im Zuge der Einrichtung von derartigen Stellen als ergänzendes Angebot zu den traditionellen Trinkerheilanstalten entstanden sei. Auch hier habe der Gedanke der Rettung der Trinker für das Reich Gottes die größte Rolle gespielt. Der angesprochene Ortsverband führte in Bielefeld seit 1928 eine alkoholfrei Gaststätte, mit der man aber allenfalls ein Zeichen habe setzen könne. 1938 habe der Verband dann seinen Beitrag zur Trinkerfürsorge erweitert, indem man einen Diakon als Trinkerfürsorger hauptamtlich einsetzte. Dennoch sei der Erfolg eher mäßig ausgefallen.

Zusammen mit Kerstin Stockhecke widmet Bärbel Thau einen weiteren kurzen Abschnitt den Alkoholikern im Nationalsozialismus, die trotz fehlender medizinischer Erkenntnisse vom nationalsozialistischen System als Erbkranke eingestuft wurden. Dementsprechend sei mit ihnen verfahren worden, was für etwa zehn Prozent der Trinker in Deutschland, bei vorgesehenen 50 Prozent, die Sterilisation bedeutete, von der auch die Betheler Patienten nicht verschont blieben.

Abschließend schildert Bärbel Thau die Entwicklung der Suchtkrankenhilfe im Evangelischen Johanneswerk e.V. in der Nachkriegszeit. Mit dem bereits in ihrem vorhergehenden Artikel thematisierten Ortsverband der Inneren Mission in Bielefeld hätten 1951 sechs weitere kirchliche Vereine und Stiftungen das Johanneswerk e.V. gegründet, das die diakonischen Einrichtungen auch des Ortsverbandes übernahm, während die offene Trinkerfürsorge beim Ortsverband verblieben sei. 1966 habe das Johanneswerk dann in Oerlinghausen eine Kurklinik eröffnet. An der Geschichte dieser Klinik macht die Autorin den Wandel in der Sichtweise und Behandlung des Alkoholismus deutlich. Auch im Zusammenhang mit dem steigenden Wohlstandsalkoholismus sei eine nun deutlich verstärkte Hinwendung zu den medizinischen Aspekten des Alkoholismus erfolgt. Dies habe sich unter anderen in der Leitung der Klinik ausgedrückt, die nicht mehr von einem Geistlichen, sondern von einem Team unter starker Einbeziehung medizinischen Personals übernommen worden sei. Obwohl der seelsorgerische Aspekt weiter eine wichtige Rolle spiele, stehe nun die Therapie nach neuesten Erkenntnissen der Medizin im Vordergrund, über Gespräche, Gruppentherapien und Entspannungsmethoden, die die Klinik bis heute weiterentwickle.

Insgesamt liefert der vorliegende Band eine guten Einblick in den Kampf der evangelischen Einrichtungen in Ostwestfalen gegen den Alkohol bis heute, wenn auch die Verknüpfung der unterschiedlichen Institutionen und Einrichtungen etwas deutlicher hätte herausgestellt werden können. In vorzüglicher Weise ist es jedoch gelungen, sowohl den Wandel der Bedeutung von Alkohol in der Gesellschaft als auch den Wandel in der Sichtweise des Alkoholismus von der Sünde zur Krankheit innerhalb der kirchlichen Einrichtungen in Verbindung mit der Geschichte der Einrichtungen zu verdeutlichen. Zudem veranschaulichen viele Fotos und vor allem bildliche Abdrucke von Vereinsordnungen, Zeitungsartikeln, Briefen usw. den dargestellten Inhalt.

Info:
Bernd Hey, Matthias Rickling, Kerstin Stockhecke und Bärbel Thau:
Alkohol – Sünde oder Sucht? Enthaltsamkeitsbewegung, Trinkerfürsorge und Suchtberatung im evangelischen Westfalen, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2004, 56 Seiten, 7,50€.

Rezension von: Till-Owe Ehlers, Bielefeld, 17.5.2004

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