Der Geschichte des Wiesbadener Landeshauses am Kaiser-Friedrich-Ring im Dritten Reich, heute Wirtschaftsministerium, hat der Historiker und Archivar am Hauptstaatsarchiv, Peter Sandner, in seinem Buch „Verwaltung des Krankenmordes“ nachgespürt (siehe früheren Bericht). Im Wiesbadener Kurier stellt Lothar Bembenek Sandners Arbeit vor:
Nach den Wirren des Ersten Weltkriegs versuchte in diesem Gebäude der Wiesbadener Separatist Dr. Dorten eine „Rheinische Republik“ einzurichten. Das Landeshaus war 1907 als Sitz des preußischen Kommunalverbandes gebaut worden.
Am 12. September 1933 tagte hier der 3. (evangelische) Landeskirchentag unter der „Peitsche“ des Bierstadter Nationalsozialisten August Jäger. Die erste Sitzung dauerte nur eindreiviertel Stunden, inklusive eines dreifachen „Sieg Heils“ und dem Singen des Deutschlandliedes. Bei drei Gegenstimmen schickte Jäger, der bald versuchen sollte, die gesamte Evangelische Kirche Deutschlands „gleichzuschalten“, den Landesbischof Kortheuer in den Ruhestand – er drohte ihm mit Einweisung ins KZ – und ließ den Arier-Paragraphen verabschieden, das heißt Pfarrer konnte nur werden, wer „arischen Blutes“ war.
Im Oktober 1945 führten die Amerikaner im Landeshaus den ersten Kriegsverbrecher-Prozess gegen Verantwortliche der NS-Euthanasie in Hadamar. Es fehlte aber der Hauptbeschuldigte Fritz Bernotat. Er war mit seiner Frau in Neuhof bei Fulda unter falschem Namen untergetaucht. Unbehelligt von Strafverfolgung starb er 1951.
Die Geschichte des Landeshauses in der NS-Zeit ist eng mit der Karriere des SS-Mannes Bernotat verbunden, der 1925 dort als kleiner Landesverwaltungsassistent des Bezirksverbandes Nassau begann. Am 15. März 1933 organisierte er zusammen mit dem SA-Standartenführer Reutlinger einen „spontanen Volksauflauf“. Ein neuer „Landeshauptmann“ der SS übernahm die Macht, sein „Adjutant“ und gelehriger Schüler wurde der kaum qualifizierte Bernotat. Als „politischer Diktator“ brachte er die anpassungsbereite Belegschaft „auf Vordermann“.
Im Jahr 1936, Bernotat sprach sich bereits öffentlich für die Ermordung von Geisteskranken aus, nahm sein Vorgesetzter Dienstsitz in Kassel, und Bernotat, vier Dienstränge überspringend, zog in dessen Büro um. Er wurde „Anstaltsdezernent“ und Landesrat. Protegiert von NSDAP-Gauleiter Jakob Sprenger war dem Choleriker nun fast keine Schranke mehr gesetzt. Das Personal aller Heilanstalten wurde „nazifiziert“ – und die Pflegesätze pro Patient wurden drastisch gesenkt.
Über eine SS-Tarnorganisation „entkonfessionalisierte“ der 47-jährige Landesrat die kirchlichen Heilanstalten. Kranke wurden zentralisiert und die Immobilien verkauft. So wurde das katholische Antoniusheim Wiesbaden-Bahnholz bald „Lebensborn“-Entbindungsheim mit einer Adoptionsstelle im Landeshaus. Statt um „Fürsorge“ ging es nun um skrupellose „rassehygienische Volkspflege“ durch Überbelegung und reduzierte Pflegesätze, die große wirtschaftliche Gewinne brachten.
Bereits ein Jahr vor Beginn der offiziellen NS-Euthanasie setzte in hessischen Anstalten ein Massensterben durch Nahrungs- und Medikamentenentzug ein. Diese Art des Mordes durch übereifrige Verwaltungsbeamte prädestinierte den Bezirksverband Nassau dazu, der aktivste Unterstützer des Krankenmord-Programms der NS-Euthanasie zu werden. In der „Tiergartenstraße 4“ (T4) in Berlin befahl Hitler im Oktober 1939 den Gasmord an „lebensunwertem Leben“ im Deutschen Reich. Bernotat überließ die Anstalt Hadamar kostenlos „T4“. Gaskammer, Sezierraum und Krematorium wurden eingebaut. Von Januar bis August 1941 wurden über 10 000 Kranke vergast. Der 10 000. Tote wurde aufgebahrt und in einem makabren Saufgelage „gefeiert“.
Oberstaatsanwalt Quambusch protestierteAbgemagert und oft verwirrt kamen die Opfer in Bussen mit Milchglasscheiben – die Kinder Hadamars nannten sie „Mordkisten“ – aus den „Zwischenanstalten“ an. Der Krematoriumsschornstein blies ständig schwarzen Ruß heraus, die Kinder redeten vom „Backofen“. Der Ruß setzte sich auf den Fensterbänken fest.
Auch in Wiesbaden gerieten durch das Personal im Landeshaus und durch „Trostbriefe“ der Verwaltung an die Hinterbliebenen Gerüchte im Umlauf. Der Wiesbadener Oberstaatsanwalt Dr. Quambusch und der katholische Bischof von Münster Graf von Galen waren die ersten, die öffentlich gegen die Euthanasie protestieren, der Bischof von Limburg folgte.
Aus Furcht, dass die Unruhe in der Bevölkerung die Front im Osten verunsichern könnte, ließ Hitler die Gasmorde in Hadamar einstellen. Die Gaskammer wurde abgebaut und in den Osten geschafft, zur Weiternutzung in einem Konzentrationslager. Der Mord der so genannten Kinder-Euthanasie durch Verhungernlassen, ging indessen weiter. Bald folgten die Morde mittels Medikamenten durch Ärzte und Pfleger. Bernotat, in seiner Machtentfaltung nicht mehr gehemmt, weitete – ohne Anweisung von Berlin – den Kreis der zu Ermordenden aus: jüdische „Mischlingskinder“, „Gemeinschaftsfremde“, „Erziehungsunfähige“, Tbc-kranke Zwangsarbeiter. Später, nach dem Krieg konnte der Landeswohlfahrtsverband einen Bezirksverband mit hohen finanziellen Rücklagen übernehmen. Die vielen Korruptions- und Veruntreuungsvorwürfe gegen Bernotat hatte Gauleiter Sprenger nur mit großer Mühe unterdrücken können.
Nichts charakterisiert Fritz Bernotat klarer als folgende Aussage im Landeshausprozess 1945, in dem drei Personen aus Hadamar die Todesstrafe und andere lebenslange Haftstrafen erhielten: Der 53 jährige Bernotat habe seine junge Geliebte Ruth Pappenheimer, eine „Halbjüdin“, die als geistig und körperlich völlig gesund und als außerordentlich schön bezeichnet wurde, in der Anstalt Kalmenhof (Idstein) durch eine Morphiumspritze beseitigen lassen. Benutzt wurde wohl auch bei ihr der wiederverwendungsfähige „Klappsarg“, den Bernotat zur Kostenersparnis hatte einführen lassen.
Haupttäter Bernotat nie zur Rechenschaft gezogenWie anfangs erwähnt, tauchte Bernotat, die schrecklichste Figur der hessischen NS-Euthanasie, mit seiner Frau im Zuge der Evakuierung der Wiesbadener Stadtverwaltung und der NS-Organisationen im Raum Schlüchtern unter. Von den willfährigen Verwaltungsbeamten im Landeshaus wurde nach dem Krieg keiner strafrechtlich belangt. Es wurden lediglich zwei Drittel der Belegschaft aus politischen Gründen entlassen.
Info:
Peter Sandner, Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Hochschulschriften Bd. 2), Psychosozial-Verlag Gießen 2004, 788 Seiten, 35 Euro.
Quelle: Lothar Bembenek, Wiesbadener Kurier, 6.4.2004