Das Geschenk für Willy Brandt gilt Experten als Seitenhieb Erich Honeckers: Der damalige DDR-Staatschef überreichte 1985 dem Besucher aus dem Westen eine Mini-Bibliothek mit 40 Werken, die nun im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) in Bonn stehen. Neben deutschen Klassikern wie Goethes «Faust» oder Werken von Marx und Engels fand sich auch die deutsche Ausgabe von «Decamerone» von Giovanni Boccaccio in der Mini-Bibliothek. Das erotische Werk wird als Anspielung Honeckers auf Brandts angebliche Liebesaffären gewertet, von denen DDR-Spion Günter Guillaume gewusst haben soll.
Honeckers Geschenk ist eines von zahlreichen Stücken im AdsD. Auf 3000 Quadratmetern haben Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung persönliche Nachlässe und Gaben von mehr als 1000 Persönlichkeiten der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung zusammengetragen. Neben solchen ungewöhnlichen Exponaten dokumentieren 40 Kilometer Akten, 750 000 Fotos, zehntausende Plakate, tausende Stunden Film sowie zahlreiche Fahnen die Geschichte der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts.
Für einige Politikgrößen wie Helmut Schmidt, Herbert Wehner oder Willy Brandt haben die 50 Beschäftigten eigens Sonderarchive eingerichtet. Im Brandt-Archiv liegen neben Honeckers Präsent sicher verstaut auch Brandts original Friedensnobelpreis (1971), die Durchschrift seines Rücktrittsschreibens als Kanzler (1974), ein vom Dalai Lama überreichter Seidenschal und Brandts Abiturzeugnis. Das vergilbte Dokument von 1932 bescheinigt Brandt, der damals noch Herbert Frahm hieß, sehr gutes Wissen in Religion und Geschichte und mangelhaftes Können in Latein und Leibesübungen.
«In unserem Archiv bewahren wir nur die persönlichen Geschenke und Dinge der Politiker auf», sagt Archivleiter Michael Schneider. Wenn Brandt oder Schmidt dagegen in ihrem Amt als Kanzler etwas überreicht wurde, dann gehöre das der Bundesrepublik. Das gelte auch für den schriftlichen Nachlass. Dokumente mit dem Bundesadler, also offizielle Schreiben der Kanzler oder Minister, sind nicht in den Bonner Regalen zu finden. Dagegen aber kilometerweise Unterlagen aus der Bundespartei, Landes- und Ortsverbänden oder auch persönliche Briefe.
Brandt ist mit seiner Hinterlassenschaft von 400 Metern Akten der Spitzenreiter im Archiv. Danach folgen Brandts Kanzler-Nachfolger Schmidt, Ex-Parteichef Hans-Jochen Vogel und das «SPD-Urgestein» Herbert Wehner. Wehner, der vor allem durch seine bissigen Zwischenrufe im Parlament legendär wurde, überließ neben 250 Meter Akten auch seine Markenzeichen dem Archiv: ein Dutzend Pfeifen plus Tabak und 30 Aktentaschen, die zum Teil noch gepackt in den Kellerräumen lagern.
«Das Hauptinteresse der Besucher gilt momentan Politikern der Nachkriegszeit», berichtet Schneider. Neben politisch interessierten Gästen stöbern vor allem Studenten und Doktoranden in den Hinterlassenschaften der Sozialdemokratie. Hoch im Kurs bei den Forschern stehen auch wichtige Politiker aus der Weimarer und «Vor-Weimarer» Zeit wie Friedrich Ebert oder die KPD-Mitbegründerin Rosa Luxemburg. Die Dokumente des DGB und der IG Metall haben ebenfalls das wissenschaftliche Interesse geweckt.
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Quelle: Glaube aktuell.Net, 7.3.2004