Die Marburger Uni-Bibliothek durchforstet in einem aufwändigen Projekt ihren Bestand nach Büchern, die im Dritten Reich beschlagnahmt wurden. – „Ich habe immer gedacht, die Bücher wären damals verbrannt worden“: Mit diesen Worten reagierte der 97-jährige Frankfurter Egon Alfhart, als ihm Dr. Bernd Reifenberg von der Marburger Uni-Bibliothek das Buch „Dem jungen Morgen zu“ von Martin Andersen-Nexö zurückgab, das in der UB im Zuge des Recherche-Projekts als NS-Raubgut erkannt wurde. Im Jahr 1934 war der 1923 verfasste Bericht einer Reise nach Russland neben rund 20 weiteren sozialistischen Büchern bei einer Razzia der Nazis in der Wohnung Alfharts beschlagnahmt worden. Aus Dank für das Interesse und die Buch-Rückgabe von seiten der Bibliothek schenkte er der UB fünf Bücher des Göttinger Philosophen und Sozialisten Leonard Nelson.
Alfhart arbeitete damals in der von des jüdischen und sozialistischen Fabrikbesitzer Max Wolf geleiteten Dreiturm-Seifenfabrik in Steinau und verteilte noch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 als Mitglied im Internationalen Sozialistischen Kampfbund illegale Flugblätter. „Die Razzia war ein Schlag gegen die Firma. Die haben mich mitgenommen und die Bücher bei mir beschlagnahmt“, erinnert sich Alfhart. Alfhart überlebte die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und die Kriegswirren: nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in mehreren Konzentrationslagern kam er frei.
Das Buch von Andersen-Nexö hatte sich wie weitere Bände des Fabrikbesitzers Max Wolf aus der Werksbibliothek in einer Lieferung des Landratsamts Schlüchtern befunden, die der Uni-Bibliothek Marburg in der Nazi-Zeit zum Kauf angeboten wurde. Bereits im November 2001 waren von der UB nach dem ersten Erfolg in dem Recherche-Projekt zum NS-Raubgut sechs Bücher aus dieser Lieferung an den Sohn des nach England emigrierten Max Wolf zurückgegeben worden.
Nur mit Hilfe von langer und detektivischer Kleinarbeit gelang es UB-Öffentlichkeitsreferent Dr. Reifenberg, nun den ersten noch lebenden Besitzer von NS-Raubgut zu ermitteln. Er fand in dem Buch, das seinen Recherchen zufolge zu derselben Lieferung des Landratsamtes Schlüchtern gehörte, den handschriftlichen Namenszug „E. Alfhart“. Daraufhin entdeckte er den Namen Egon Alfhart in dem Register eines Buches der Historikerin Christine Wittrock, die diesen als Zeitzeugen interviewt hatte.
Im Anschluss an die Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocausts im Jahr 1998 in Washington verabschiedeten Bund, Länder und Gemeinden eine „Erklärung zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts“. Nicht nur Kunstsammlungen und Archive, sondern auch Bibliotheken sollen in ihren Beständen nach NS-Raubgut suchen und diese an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgeben.
Die Marburger Bibliothek ist laut Reifenberg die erste und einzige öffentliche Bibliothek, die ihre Bestände systematisch nach diesen „Beute-Büchern“ durchforstet. Es geht dabei um rund 10.000 Bände, die in der Zeit zwischen 1933 und 1950 von der Bibliothek aus zweiter Hand erworben wurden. Dabei muss jedes einzelnes Buch angeschaut werden. Bisher wurden rund 5.000 Bücher auf Besitzvermerke, Exlibris und andere Herkunftsspuren untersucht. Alle Ergebnisse werden in einer Datenbank erfasst, die demnächst auch per Internet abrufbar sein wird.
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Quelle: Oberhessische Presse, 8.3.2004