Langsam hebt sich die Wandverkleidung des kleinen, gotischen Raums am Kreuzgang des Karmeliterklosters. Schwere Tresortüren werden sichtbar. Michael Matthäus streift sich weiße Handschuhe über, bevor er in die Stahlschränke greift. Dort liegen die kostbarsten Stücke der Frankfurter Stadtgeschichte: die älteste erhaltene Originalurkunde, ein Pergament vom 2. Dezember 882, in dem Kaiser Karl III. eine Stiftung seines Vaters zugunsten des heutigen Bartholomäusdoms bestätigt, die Frankfurt als einen Hauptort des ostfränkischen Reichs ausweist; das Messe-Privileg des Stauferkaisers Friedrich II. von 1214, das eine Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt am Main legte; die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. von 1356, eines der wichtigsten Gesetze des Alten Reichs, das die Regularien der Königswahl festlegte und Frankfurt als Ort der Wahl bestätigte.
„Flachware“ nennen die Historiker im Institut für Stadtgeschichte solche schriftlichen Zeugnisse beinahe ein wenig despektierlich. Flachware, die dem Bild der Stadt allerdings erst Tiefenschärfe gibt.
Matthäus, im Institut für die Mittelalter-Abteilung zuständig, hält in seiner Schatzkammer aber auch plastisches Anschauungsmaterial für Besuchergruppen bereit: die Schere etwa, die als Beweisstück gegen die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt, Goethes Gretchen, in ihren Prozeßakten verwahrt ist, oder Kerbhölzer, die auf den ersten Blick klarmachen, was es heißt, wenn jemand viel auf demselben hat.
Das Gedächtnis der Stadt umfaßt freilich ungleich mehr als den Inhalt der Tresore. Das ganze, bis 1866 reichende Alte Archiv lagert im Karmeliterkloster auf drei Etagen unter der Erde. Zehn Kilometer Kompaktregale stehen dort in fahlem Neonlicht in nüchternen, weiß getünchten Räumen. Regelmäßig hört man das Rumpeln der U-Bahn. Als sie in den achtziger Jahren entstand, hatte man den ganzen Platz vor der mittelalterlichen Klosteranlage für die Baustelle ausgehoben. Eigentlich sollte nach der Fertigstellung alles wieder zugeschüttet werden, doch der damalige Archivleiter Wolfgang Klötzer nutzte die Gunst der Stunde, um Lagerraum für das seit 1956 im Karmeliterkloster untergebrachte Institut zu gewinnen.
Dabei existiert überhaupt nur noch etwa ein Viertel der historischen Unterlagen. Das meiste ist bei den Bombenangriffen auf Frankfurt im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Die Auslagerungen davor waren ziemlich chaotisch verlaufen, je nach „Spritlage“ wurden Teile unter anderem in die Kronberger Burg, nach Schloß Meerholz und in das Salzbergwerk von Bad Friedrichshall bei Heilbronn gebracht. So ist etwa das Frankfurter Ratsarchiv vernichtet, die entsprechenden Dokumente der eingemeindeten Orte haben den Krieg in Kronberg überstanden.
Und doch ist man im Karmeliterkloster längst an die Grenzen gestoßen: Akten einzelner Ämter und Betriebe sowie Personalakten der Stadt sind im Ostturm der Großmarkthalle ausgelagert. Wirtschaftsarchiv und Nachlaß-Sammlungen sind an der Eschborner Landstraße in Rödelheim untergebracht. Diese Dokumente sollen alle in das geplante neue Magazin an der Borsigallee umziehen, das 2006 bezugsfertig sein soll. Ein Archiv sei eben „ein wachsender, lebender Organismus“, sagt der für die modernen Akten zuständige Konrad Schneider. Doch ausgerechnet in der Stadtverwaltung scheint das Bewußtsein dafür gelegentlich etwas unterentwickelt zu sein. Frankfurt sollte doch ein Archiv für seine Akten aufbauen, sei einmal als Verbesserungsvorschlag aus dem Rathaus gekommen. Schneider nimmt so etwas gelassen. Die sogenannte Aktenabgabepflicht sei das eine, was die Ämter daraus machten, sehe oft ganz anders aus. Es ist schon mehr als einmal vorgekommen, daß eine Behörde keine Unterlagen mehr gehabt habe und etwa für Jubiläen dann im Stadtarchiv die eigene Geschichte recherchierte.
Freilich muß auch Schneider auswählen, wenn es gilt, Unterlagen in die Obhut des Instituts zu übernehmen. Zu zweit würden Papiere gesichtet, „denn Fehler sind ja nicht mehr zu korrigieren“, berichtet er. Das gilt nicht nur für amtliche Schriftstücke. Das voriges Jahr geschlossene Kaufhaus Schneider beispielsweise hatte sein Archiv vollständig weggeworfen, womit auch in dieser Hinsicht ein Stück Frankfurter Lokalgeschichte verlorenging.
Dabei gibt das Institut auch Tips für den Aufbau von Archiven, und zwar nicht nur im Wege der Amtshilfe, sondern auch für Vereine oder Privatleute. „Wir verstehen uns als Dienstleistungsunternehmen“, hebt die amtierende Direktorin Evelyn Brockhoff hervor und schiebt gleich den Appell nach, alte Unterlagen im Zweifelsfall nicht einfach wegzuwerfen, sondern dem Stadtarchiv anzubieten. „Machen Sie mehr aus ihrem Papier“, lautet der Slogan. Schließlich sei das Archiv dazu da, „das Leben Frankfurts in all seinen Facetten zu dokumentieren“ – wobei gelegentlich auch der Zufall hilft. So fand sich vor einiger Zeit zum Beispiel eine Sammlung seltener Farbfotos der Stadt aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg auf dem Sperrmüll.
Daß alle diese Anstrengungen nicht Selbstzweck sind und die zusammen etwa 80 Mitarbeiter des Instituts für Stadtgeschichte nicht etwa mit dem Blick nach innen damit beschäftigt sind, verstaubte Papiere zu sortieren, zeigt das Angebot des Hauses. Im Karmeliterkloster finden Ausstellungen und Kreuzgang-Konzerte statt. Den Lesesaal nutzen jedes Jahr rund 4000 Besucher, wobei Recherche-Aufträge und telefonische Anfragen gar nicht erfaßt sind. Im Erzählcafe werden regelmäßig Aspekte der Stadtgeschichte von Zeitzeugen beleuchtet.
Voriges Jahr erschien ein amerikanischer Besucher namens Gomer auf der Suche nach der eigenen Geschichte im Institut. Er berichtete, Vater und Onkel seien Weinhändler in Frankfurt gewesen, die als Juden Frankfurt in den dreißiger Jahren verlassen hätten. Die Suche im Archiv förderte unter anderem Magistratsakten über den „Erwerb von Liegenschaften“ 1938 zutage. Sie belegen, wie die Goldmaiers ihr Haus im Westend unter Wert verkaufen und den Erlös als „Vermögensabgabe“ leisten mußten, um ausreisen zu können. Ein Beispiel dafür, wie das Archiv auch individuelle Lebensbilder wiederherstellen kann.
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www.stadtgeschichte-ffm.de
Quelle: FAZnet, 12.2.2004