Hans-Joachim Hecker vom Münchner Stadtarchiv nimmt seit November 2003 Buch für Buch vom Stapel auf seinem Schreibtisch. Er blättert in Akten des Berliner Bundesarchivs, stöbert in Urkunden des Reichskolonialamts und arbeitet sich durch die Tabellen des Freiburger Militärarchivs. Bis Ende Februar will Hecker auf Grundlage dieses Materials ein Gutachten erstellen.
Das Gutachten hat die Stadt München in Auftrag gegeben. Sie will von dem Archivar Hecker wissen, ob sie Straßennamen ändern soll, die auf die deutsche Kolonialzeit zurückgehen. Weil manche Münchner das wollen, andere aber nicht, fliegen derzeit die Fetzen. Besonders in den Stadtteilen Trudering-Riem und Bogenhausen: Dort gibt es 28 Straßen, die an einschlägige Orte oder Personen aus der Zeit von 1884 bis 1918 erinnern. Während sich kaum jemand an der Samoa- oder Togostraße stört, sind die Ehrungen für Kolonialkrieger wie Lothar von Trotha oder Hans Dominik umstritten: Viele Quellen belegen deren Kriegsverbrechen.
Wahrscheinlich hat Hans-Joachim Hecker von den Herero gelesen. Den nomadischen Rinderzüchtern in Südwest-Afrika, dem heutigen Namibia. Ihnen schwatzten deutsche Händler seit 1885 fast ihr gesamtes Land ab – gegen Schnaps und alte Gewehre. Irgendwann fanden die Herero für ihre Rinder, die „Ozongombe“, kein Weideland mehr und kein Wasser. Als sich deutsche Siedler immer öfter an den Frauen des Stammes vergingen, erhoben sich 80.000 Herero im Januar 1904 gegen ihre Unterdrücker.
Am Ende des Jahres waren 60.000 Herero tot: niedergemäht von deutschen Maschinengewehren, verdurstet auf der Flucht in die Omaheke-Halbwüste, krepiert in den Gefangenenlagern der Kolonialherren. Einige Herero buddelten auf der Suche nach Wasser mit der bloßen Hand 15 bis 20 Meter tiefe Löcher in den heißen Sand. Um länger kämpfen zu können, saugten die Krieger die Milch aus den Brüsten ihrer Frauen.
Wie der Führer der 10.000 Mann starken deutschen Schutztruppe gegen die Aufständischen vorging, kann Archivar Hecker in einem Brief nachlesen: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.“ Der Verfasser des so genannten Vernichtungsbefehls war Generalleutnant Lothar von Trotha.
Im Münchner Stadtteil Trudering-Riem gibt es bis heute eine „Von-Trotha-Straße“ – zum Unmut der Grünen. Stadtrat Siegfried Benker fordert, München „zu entkolonialisieren“. Der Stadt müsse bewusst werden, „dass wir bei Personen, die eindeutig als Kriegsverbrecher gelten, handeln müssen“.
Dass in Deutsch-Südwest Verbrechen begangen wurden, ist für den Geschichtsprofessor Andreas Eckert von der Universität Hamburg erwiesen. „Gerade Lothar von Trotha gehört eindeutig in die Kategorie bestimmter Nazi-Verbrecher“, sagt der Afrika-Experte. Der habe „sicher keinen Straßennamen verdient“. Genauso wenig wie Hans Dominik, der „Schlächter von Kamerun“. Den ehrt Bogenhausen mit einer Straße, derweil in der früheren Kolonie noch heute das geflügelte Wort „Du bist bösartig wie Dominik“ kursiert.
Doch darüber wird Hans-Joachim Hecker in der „Liste der amtlichen Namenserläuterungen“ nichts lesen. Stattdessen: „Hans Dominik, verdient um die Erforschung und Befriedung der ehem. Deutschen Kolonie Kamerun (1893-1910).“ Kein Wort davon, dass der Premierleutnant mit dem Ruf „Waidmannsheil“ auf Menschenjagd ging. Kein Wort davon, dass der Mann mit dem Schnauzer bei jeder Gelegenheit seine Nilpferdpeitsche auf Rücken niederzischen ließ. Auch kein Wort davon, dass sich Dominik nach einem Bajonettangriff seiner Leute ergötzte: „Ich habe die Bestie im Menschen entfesselt gesehen.“
Vielleicht wird Christiane Hacker reagieren, wenn sie das erfährt. Noch sagt die Vorsitzende des Bezirksausschusses Bogenhausen, die Bürger hätten „überhaupt keine Lust, ihre Adresse zu ändern“. Und: Man dürfe die Straßennamen „nicht nach heutigem Verständnis von political correctness überprüfen“. Dabei hat die SPD-Politikerin schon einmal gehandelt – vor vier Jahren. Damals änderte der Münchner Stadtrat auf ihren Rat hin den Namen der „Carl-Peters-Straße“. Peters hatte zur selben Zeit wie Hans Dominik Menschen gelyncht – in Deutsch-Ostafrika. Nun ziert die Forscherin Ida Pfeiffer das Straßenschild.
Für den Kollegen von Hacker in Trudering-Riem hat sich „das Thema von-Trotha-Straße erledigt“. Die heiße „schon seit zehn Jahren nur noch nach dem Geschlecht derer von Trotha“ und nicht nach Lothar, dem Verbrecher, beteuert Georg Kronawitter, der Vorsitzende des Bezirksausschusses. Dass sie noch immer die Waterbergstraße kreuzt – benannt nach dem Ort der Entscheidungsschlacht zwischen Deutschen und Herero im August 1904 -, das sagt der CSU-Mann nicht. Je nach Wertung des Gutachtens will er „über den einen oder anderen Fall“ noch mal nachdenken. Denn bei manchen Taten sei „die Schmerzgrenze erreicht“.
Die ist für die Herero in Namibia längst überschritten. Der Stamm, der heute mit 122.000 Menschen nur rund sieben Prozent der Bevölkerung stellt, will die Geschichte nicht auf sich beruhen lassen. Gegen den Willen der Regierungsmehrheit der Ovambo, die Deutschland als Entwicklungshelfer nicht vor den Kopf stoßen will, kämpfen die Herero hundert Jahre nach ihrem Aufstand erneut – diesmal um eine Entschädigung. Ihr Oberhäuptling Riruako sagt: „Die Deutschen haben sich mit dem Holocaust an Juden, Sinti und Roma beschäftigt, nun werden sie sich mit dem Genozid an den Herero auseinander setzen müssen.“ – Wie der Münchner Archivar Hans-Joachim Hecker.
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Quelle: Merkur Online, 21.2.2004