Geschichte der Flüchtlinge in St. Gallen 1933-1945

2.000 bis 3.000 Flüchtlingen hat der ehemalige St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger illegal über die Grenze verholfen. Das hat ihn seine Arbeit gekostet. Erst viel später – in den 90er-Jahren – hat Grüninger Rehabilitierung erfahren. Die «Grüninger-Flüchtlinge» sind längst nicht alle Frauen und Männer, die in den Jahren 1933 bis 1945 über die Grenze in die Schweiz und den Kanton St. Gallen gelangten – illegal auch sie. «Der Kanton St. Gallen hat mehr als 10.000 Flüchtlinge aufgenommen», sagt Jörg Krummenacher.

Der Journalist recherchiert seit zwei Jahren zur St. Galler Flüchtlingsgeschichte. In seinem Büro stapeln sich Flüchtlingslisten aus dem St. Galler Staatsarchiv (Flüchtlingsakten, Akten der Politischen Polizei), dem Bundesarchiv, den Archiven für Zeitgeschichte in Zürich und München sowie weiteren Archiven. «Vermutlich», so Krummenacher, «hielten sich nochmals einige tausend Flüchtlinge versteckt im Kanton auf. Sie sind auf keiner offiziellen Liste zu finden.» Die Flüchtlinge lebten im ganzen Kanton, gut 3.000 allein in der Stadt St. Gallen. «Im Linsebüel-Quartier gab es kaum ein Haus, in dem keine Flüchtlinge wohnten», sagt Krummenacher. Und: Der «Walfisch» – heute eine Unterkunft für Asylsuchende – war bereits damals eine Flüchtlingsstätte.

Wie viele Flüchtlinge hat der Kanton St. Gallen ab- oder ausgewiesen? Beim Aktenstudium ist Krummenacher bisher auf «einige Dutzend» Rückweisungen durch st. gallische Behörden gestossen. Gut 200 Fälle dürften dokumentiert sein. «Eine Schätzung», sagt der St. Galler Journalist, «die tatsächliche Zahl von Rückweisungen und Ausschaffungen war um ein Mehrfaches höher.» Er geht von «mehreren hundert ausgeschafften und mehreren tausend abgewiesenen Flüchtlingen» aus. Bei seinen Recherchen ist Krummenacher ein brisantes Papier in die Hände gekommen: Ein Brief von Heinrich Rothmund, Chef der Polizeiabteilung des EJPD, an den St. Galler Regierungsrat Valentin Keel, datiert vom 25. März 1939. Rothmund, Bürger von St. Gallen, hält darin fest, dass es nicht möglich sei, die Immigranten, die dank Hauptmann Grüninger oder auch dank Valentin Keel einreisen konnten, wieder auszuschaffen. «Es hat keinen Zweck, solche Leute auszuschaffen und damit dem sicheren Untergang preiszugeben.» Trotzdem haben die St. Galler Behörden in den Monaten nach diesem Brief mehrere Flüchtlinge ausgeschafft. Warum? «Die Ausweisungen erfolgten, nur so kann ich den Brief Rothmunds interpretieren, willkürlich und gegen den ausdrücklichen Willen des Bundes – zumindest zu jenem Zeitpunkt», sagt Krummenacher. In seinem Buch zur St. Galler Flüchlingsgeschichte – es wird Ende 2004/Anfang 2005 erscheinen – zeichnet er den Fall einer Familie nach, die drei Tage vor Erhalt der Ausreisepapiere ausgeschafft, später von den Nazis deportiert und im Konzentrationslager getötet wurde.

Den Brief von Rothmund hat Krummenacher von einem damaligen Flüchtling erhalten. Insgesamt hat er mit 60 Zeitzeugen Gespräche geführt. «Nur dank dieser Begegnungen und Erzählungen ist es einigermassen möglich, die Vorgänge jener Zeit zu rekonstruieren. Würde dies ausschliesslich mit Hilfe von Aktendossiers erfolgen, entstünde ein verfälschtes Bild», ist er überzeugt. Die Zeitzeugen – die meisten waren zu jener Zeit Kinder oder junge Erwachsene – seien in ihren Schilderungen inhaltlich äusserst korrekt, in ihren Erinnerungen überraschend genau. «Fehlerhaft sind sie bei der Nennung von Daten.» Bei der zeitlichen Einordnung ihrer Geschichten stützt sich Krummenacher deshalb auf Akten und Fakten. «Umgekehrt», hat er die Erfahrung gemacht, «ist es ein Irrglaube, Aktenmaterial sei immer fehlerfrei.» Bei seinen Nachforschungen sei er häufig auf Widersprüche gestossen, die sich nur dank Vergleichen unterschiedlicher Quellen hätten klären lassen. Oder sonst eben als Widersprüche stehen blieben – auch im Buch.

Für die «Erstellung eines druckfertigenManuskripts» hat Jörg Krummenacher vom Kanton Geld erhalten: 14 0000 Franken aus dem Lotteriefonds. Seit bald zwei Jahren arbeitet der Journalist die Flüchtlingsgeschichte des Kantons St. Gallen 1920 bis 1950 auf. Das Buch wird Ende 2004/Anfang 2005 im Limmat-Verlag erscheinen.

Quelle: Tagblatt (Schweiz), 19.2.2004

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