Evidenz – oder: die Verkopplung von Wahrheit und Vorstellungswelt

Anfang der 1990er Jahre plädierte die damalige Leiterin der Marburger Archivschule, Angelika Menne-Haritz, in verschiedenen Aufsätzen gegen eine inhaltlich orientierte Bewertungstheorie zugunsten einer formalen, an „Evidenzwerten“ orientierten und aus der archivischen Praxis kommenden Bewertungskonzeption.

Menne-Haritz argumentierte, dass Archive Schnittstellen von Verwaltung und Öffentlichkeit seien. „Die Tranzparenz von Verwaltungshandeln in der demokratischen Gesellschaft herzustellen ist archivarische Aufgabe. Wenn Schriftgut Werkzeugfunktion in der Verwaltung hatte, enthält es authentische Informationen über Ablauf der Aktion in Form von Indizien, nicht im Text. Die Schriftstücke sind nicht wegen der Texte, sondern wegen ihrer Funktion interessant; für diese Funktion wurden die Texte formuliert – nicht für die Nachwelt. Archivische Arbeit ist daher Evidenz über Aufgabenerledigungsprozesse herstellen – erst in diesem Kontext bekommen Texte Bedeutung.“ (Angelika Menne-Haritz: Anforderungen der Bewertungspraxis an die archivische Theorie. in: Archivmitteilungen 41 (1991), S. 101-108)

Dieses Konzept war wiederum Anlass zu kritischen Stellungnahmen aus der archivischen Praxis, wie Volker Schockenhoff 1997 referierte: Den in Anlehnung an Schellenberg von Menne-Haritz geprägten „Evidenz“-Begriff kritisiert Wolfgang Hans Stein 1995 durch einen Vergleich der französischen und deutschen Schellenberg-Rezeption (Wolfgang Hans Stein: Die Verschiedenheit des Gleichen, Bewertung und Bestandsbildung im archivischen Diskurs in Frankreich und Deutschland, in: Der Archivar 48 (1995), Sp. 597-612). Während im Französischen der Begriff „evidential value“ mit „valeur de temoinage“ übertragen werde, sei er im Deutschen zunächst als Evidenzwert und dann zu Evidenz hypostasiert worden. Aus Akten Behördenvorgänge zu rekonstruieren, habe aber nichts mit unmittelbarer Anschauung zu tun und sei nicht unter dem phänomenologischen Wahrheitsbegriff zu subsumieren. Der anglo-amerikanische Begriff evidence komme aus dem common law und meine Beweiserhebung durch intellektuellen Schluss, eben nicht direkte Anschauung. Man solle deshalb den Begriff ganz aufgeben und besser von Quellenwert oder Aktenwert sprechen.

Auch vor dem Hintergrund dieser archivischen Diskussion kann der aktuelle Bericht von Gisa Funck über eine Kölner Tagung über „Evidenz“ in der Süddeutschen gelesen werden (er weckt bei ehemaligen „Archivschülern“ zumindest unweigerlich diese Assoziation). Es sei Verdienst und Dilemma der Kultur- und Medienwissenschaften, immer auch jene Grundsätze in Frage zu stellen, aus denen sie ihre eigene Berechtigung ableiten. Bei der Evidenz-Tagung war dieses Dilemma offenbar besonders deutlich geworden: „Wer die Produktionsbedingungen von letztgültigen „Wahrheiten“ erforscht, stellt sich zwangläufig selbst unter Verdacht – und muss notwendig mit einem blinden Fleck operieren. Zwar spielten die Initiatoren des Kölner „Forschungskollegs für Medien und kulturelle Kommunikation“ mit ihrem Titel [„Die Listen der Evidenz“] bewusst auf diese paradoxe Situation an, indem sie darin den mehrdeutigen Begriff der „List(en)“ aufnahmen. Gleichwohl konnten sie damit natürlich nicht verhindern, dass sich die Vorträge jener rhetorischen Tricks bedienten, die sie zu entlarven suchten. Schließlich kann man in der Anfechtung vermeintlicher Klar- und Wahrheiten sogar eine besonders listige List erkennen, eigene Aussagen umso glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Zumindest, wenn man dem Karlsruher Medientheoretiker Boris Groys Glauben schenkt.

Nichts, bilanziert Groys, goutiert die heutige Öffentlichkeit so sehr wie angebliche Enthüllungsberichte. „Nur der Verdacht“, schreibt er, „scheint uns gleich auf den ersten Blick glaubwürdig und überzeugend zu sein. Der eigentliche Held der medialen Kultur ist der Privatdetektiv, der ständig nach neuen Indizien sucht, die seine Verdächtigungen bestätigen können.“ Groys erfüllte diese Detektivrolle in Köln gewissermaßen, indem er mit Verweis auf Descartes den Zweifel zum einzig evidenten Phänomen überhaupt erklärte. „Der Zweifel ist die eigentliche Quelle der Evidenz“, stellte er in gewohnt provokativer Pose fest.

Doch nach welcher Erkenntnis lohnt es sich noch zu streben, wenn allein der Verdacht als Gewissheit übrig bleibt? Wer der Evidenz noch nicht einmal mehr so viel teleologische Aussagekraft zubilligt, dass sie zum Sehnsuchtsziel taugt, plädiere für die Lähmung, hielt man Groys prompt vor. Seine Definition klang den meisten Diskutanten zu resignativ, auch wenn nichts unverlässlicher ist als das scheinbar Offensichtliche. Dafür bürgt eine lange Tradition.

Cicero war es, der das Wort „evidentia“ beim Übersetzen von Aristoteles einst erschuf. Das, was wörtlich „aus sich selbst heraus leuchtet“, meinte fortan immer beides: philosophische Kategorie und fintenreiche Kunst der Rede, zu deren Raffinesse es gehört, mit Zeugen und Zahlen aufzuwarten. Im Mittelalter gehen Autoren langsam dazu über, ihre Aussagen weniger durch Gewährsmänner als durch den Verweis auf Bücher zu stützen. Mit der Moderne setzt dann der Siegeszug der Statistik ein – aller Verkürzung zum Trotz, die jede Überführung von „lebendem Inventar in eine tote Zahl“ in sich birgt. Entweder nämlich unterschlagen die Tabellen individuelle Besonderheiten, oder sie widmen sich so sehr dem Einzelnen, dass eine allgemein gültige Aussage letztlich unmöglich wird, wie Isabell Otto deutlich machte. Dessen ungeachtet nutzen Politiker, Journalisten und Wissenschaftler die Statistik bis heute als bevorzugtes Mittel der Beweisführung.

Mit der amerikanischen Propaganda gegen einen irakischen „Schurkenstaat“ hat die Evidenzrhetorik nach Meinung des Berliner Kulturwissenschaftlers Tom Holert eine neue Dimension der Täuschung erreicht. Schließlich sprachen George Bush und Colin Powell ausgerechnet dann von ausreichender „evidence“ für einen Militärschlag, als die UN-Inspektoren ihre Suche nach Massenvernichtungswaffen im Irak ergebnislos abgebrochen hatten. Eine unsichtbare Gefahr wurde so zum pseudo-sichtbaren Beweis dafür gemacht, gegen Saddam Hussein präventiv vorzugehen. Angesichts der „klaren Evidenz einer Bedrohung“, argumentierte Bush im Oktober 2002, könne man es sich nicht leisten, weiter auf klare Indizien zu warten. Eine völlige Verkehrung der Beweislast, mit der laut Holert einherging, dass die Weltpolitik zum Kriminalfall geschrumpft wurde. Auch die UN trete neuerdings in ihren Appellen zunehmend in der Rolle eines Ermittlers auf, um die globale Zivilgesellschaft regelmäßig an „Überwachungs- und Kontrollpflichten“ zu erinnern.

Wie stark jede vermeintliche Wahrheit tatsächlich an eine Vorstellungswelt gekoppelt ist, zeigt sich auch in der aktuellen Debatte um den Rechtsschutz frühembryonaler Zellformen. Jörn Ahrens wies hier auf das Problem hin, dass beim Streit um die Verwendung von Stammzellen ständig vom „Menschen“ gesprochen wird, während dieser – rein bildlich gesehen – doch längst schon verschwunden ist. Zellen tragen kein Gesicht und lassen sich nur schwer voneinander abgrenzen. Auf sie den Begriff des Menschen anzuwenden, bedeutet von daher eine bislang nie da gewesene „Ausweitung des Menschlichen“, die nach Ahrens einem Willkürakt gleichkommt.“

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Quelle: Süddeutsche Zeitung, 16.2.2004

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