Der Internet-Zeitung „Russland.RU“ liefert Michail Prosumenschtschikow, stellvertretender Direktor des Russischen Staatlichen Archivs der Geschichte der Neuzeit, einen Beitrag zur Geschichte der Aufhebung der Geheimhaltung der sowjetischen Parteiarchive.
In den Jahren der Sowjetmacht vereinigte die höchste Führung der kommunistischen Partei die Funktionen der Partei- und der Staatsführung in sich. Im ZK der KPdSU wurden praktisch alle Fragen entschieden: Angefangen von Problemen der Weltraumforschung, der Verteidigung und der Staatssicherheit bis hin zu der Herausgabe von Lehrbüchern und der Anfertigung von Souvenirs. Jedes Dokument des ZK wurde damals, unabhängig von seiner Bedeutung, mit verschiedenen Geheimhaltungsvermerken versehen. Die Dokumente der Abteilungen, Kommissionen und des Büros des ZK der KPdSU trugen in der Regel den Vermerk „geheim“, selten „streng geheim“. Die Unterlagen des Sekretariats und erst recht des Politbüros des ZK der KPdSU waren schon durchweg streng geheime Dokumente. Die wichtigsten Dokumente erhielten den höchsten Geheimhaltungsgrad und wurden in der so genannten „besonderen Aktenmappe“ aufbewahrt.
1991 erhob die Öffentlichkeit die Forderung, die Parteigeheimnisse zu lüften. Es stellte sich aber heraus, dass mehr als 95 Prozent der im Russischen Staatlichen Archiv für die Geschichte der Neuzeit (russische Abkürzung: RGANI) zusammengetragenen Dokumente sich in geheimer Aufbewahrung befinden.
Das RGANI hatte aber weder einen Bestandsbildner noch einen Rechtsnachfolger. Der erstere fehlte, weil die KPdSU aufgelöst worden war, der letztere, weil keine der kommunistischen Parteien, die sich heute in Russland betätigen, eine offizielle Rechtsnachfolgerin der KPdSU ist. Das RGANI erhielt aber nicht das Recht, den Vermerk „Geheim“ aufzuheben. Auf diese Weise entstand ein ernsthaftes Problem: Durch wen und wie konnte die Geheimhaltung der Archivdokumente aufgehoben werden. Und es bedurfte einer sofortigen Lösung.
In den Jahren 1992/93 galt bei der Aufhebung der Geheimhaltung von Archivdokumenten das Prinzip der „revolutionären Zweckmäßigkeit“, was bedeutete, dass die Dokumente oft spontan publik gemacht worden waren.
1992 verfasste Rudolf Pichoja, damaliger Chef des Föderalen Archivdienstes, eine provisorische Anweisung, die es den ehemaligen Parteiarchiven erlaubte, Dokumente verschiedener Abteilungen des ZK, die mit Geheimhaltungsvermerken versehen worden waren, zu verleihen. Gerade damals, während der Verhandlung des „Falls KPdSU“ im Verfassungsgericht der Russischen Föderation, wurde eine Menge von Dokumenten aus den Parteiarchiven, den Archiven des Komitees für Staatssicherheit, des Außenministeriums und des Verteidigungsministeriums publik gemacht.
Das Hauptmassiv der Archivdokumentation des RGANI bilden Dokumente, die nach 1952 geschaffen worden sind, ein Teil der Staatsgeheimnisse, die sie enthalten, ist auch heute noch aktuell. Darum löste der massenhafte und schlecht lenkbare Prozess der Aufhebung der Geheimhaltung der Dokumente in einer Reihe von Ländern eine negative Reaktion aus und schuf Probleme für die außenpolitische Tätigkeit des neuen Russland.
1993 nahm die Führung des Landes zwei neue Gesetze an: „Über die Archive und den Archivbestand der Russischen Föderation“ und „Über das Staatsgeheimnis“, die den Prozess der Aufhebung der Geheimhaltung von Archivdokumenten regelten. 1994 setzte der Präsident Russlands Boris Jelzin eine Sonderkommission zur Aufhebung der Geheimhaltung der ehemaligen Parteidokumente ein, zu der Vertreter verschiedener Ministerien, Wissenschaftler, Archivare und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gehörten.
Es entstand aber ein Problem mit jenen Dokumenten, die früher in Übereinstimmung mit der Anweisung von Rudolf Pichoj, Chef des Föderalen Archivdienstes, publik gemacht worden waren. Ensprechend den neuen Gesetzen mussten alle diese Dokumente, selbst wenn sie bereits an die Öffentlichkeit gelangt waren, dem offiziellen Verfahren der Aufhebung der Geheimhaltung unterzogen werden. Viele davon erhielten damals erneut den Vermerk „geheim“. Die Kommission kann es sich aber als ein unstrittiges Verdienst anrechnen, dass sie die Geheimhaltung von mehreren Tausend Aktenmappen sowohl aus dem RGANI als auch aus anderen Archiven aufgehoben hat.
Am 11. Juli 1997 versammelte sich die Kommission zu einer ordentlichen Sitzung, der es, wie sich später herausstellte, beschieden war, zur letzten zu werden. Seit diesem Tag begann für die Archive die dritte Periode der Aufhebung der Geheimhaltung von Dokumenten, die sich heute nicht anders als „bürokratische Spiele“ bezeichnen lässt.
Im Laufe von nahezu fünf Jahren konnten die Beamten verschiedener Ämter nicht die Frage lösen: Durch wen, wie und wann wird die Geheimhaltung der ehemaligen Parteidokumente aufgehoben und ob das überhaupt in der nächsten Zukunft getan werde. In diesem ganzen Zeitraum ist es dem Archiv lediglich gelungen, in der Zwischenamtlichen Kommission zum Schutz des Staatsgeheimnises die Aufhebung der Geheimhaltung von einigen Hundert Dokumenten durchzusetzen. Für das Archiv, das Hunderttausende Aktenmappen zählt, ist das wie ein Tropfen auf einen heißen Stein.
Am 2. Juni 2001 schien es gelungen zu sein, das Problem über den toten Punkt hinweg zu bringen. Der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin unterzeichnete den Erlass Nr. 627, laut dem die frühere Kommission zur Aufhebung der Geheimhaltung von Dokumenten der KPdSU aufgelöst und alle ihre Funktionen auf die Zwischenamtliche Kommission zum Schutz des Staatsgeheimnisses übertragen worden waren. Der Präsident erteilte der Zwischenamtlichen Kommission den Auftrag, im Laufe von zwei Monaten das Verfahren zur Aufhebung der Geheimhaltung ehemaliger Parteidokumente festzusetzen.
Die Kommission hat aber seit Januar 2002 bis heute nicht das Hauptnormativdokument bestätigt, das das Verfahren zur Aufhebung der Geheimhaltung und der Verlängerung der Fristen der Geheimhaltung der Archivdokumente regelt. Negativ wirkt sich auf den Prozess der Aufhebung der Geheimhaltung der ehemaligen Parteidokumente auch die Unvollkommenheit der Normativbasis aus. Die Experten geben oft subjektive und nicht immer begründete Gutachten ab, mitunter auch Formulierungen, die von der russischen Gesetzgebung nicht vorgesehen sind.
Das langsame Tempo der Aufhebung der Geheimhaltung der Dokumente erklärt sich auch noch dadurch, dass Vertreter verschiedener Ämter die Arbeit zur Begutachtung der Dokumente als zusätzliche Belastung empfinden, die Ministerien und Ämter tragen aber keine Verantwortung dafür, dass ihre Dokumente immer noch die Geheimhaltungsvermerke tragen.
Die heutige Kommission hat bisher den Großteil des Arbeitsplans für 2002 nicht erfüllt. Wenn dieses Tempo der Aufhebung der Geheimhaltung beibehalten wird, so wird dieser Prozess in den nächsten 100 Jahren wohl kaum abgeschlossen werden. Das RGANI hat wiederholt bei verschiedenen Instanzen das Recht beantragt, selbstständig die Geheimhaltung jener Dokumente aufzuheben, die sich nicht anders als unbegründet geheimgehalten bezeichnen lassen. Welches Staatsgeheimnis können zum Beispiel das Programm des Festkonzertes, das der Begehung des Geburtstages von Lenin gewidmet war, oder der Beschluss des ZK der KPdSU über die Herausgabe eines Nachschlagebuches über den Fußball enthalten? In den Jahren der Sowjetmacht wurden in der Zeitung „Prawda“ und in der Zeitschrift „Kommunist“ auf Beschluss des ZK der KPdSU ständig die Beschlüsse der Partei zu Wirtschaftsfragen, zum Bauwesen und zur Propaganda veröffentlicht. Im RGANI werden sie aber nach wie vor in geschlossenen Depots aufbewahrt.
In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts „schenkte“ Präsident Boris Jelzin während seiner Besuche in Tschechien, Südkorea und Deutschland den Regierungen dieser Länder wiederholt Riesenmengen der Xerokopien von Dokumenten, die im RGANI und in anderen Archiven aufbewahrt werden. Die ganze Welt macht sich seit vielen Jahren schon mit diesen Dokumenten bekannt, sie sind in Artikeln und Monographien veröffentlicht und in viele Sprachen übersetzt worden. Aber die russischen Wissenschaftler, die einige Angaben aus diesen Materialien verwenden möchten, müssen eine ausländische Ausgabe, die sie veröffentlicht hat, ausfindig machen, eine Rückübersetzung besorgen und sich dabei in der Anmerkung nicht auf das Archiv, in dem das jeweilige Dokument immer noch mit dem Geheimhaltungsvermerk aufbewahrt wird, sondern auf die ausländische Publikation berufen.
Auf alle Appelle der Forscher und Archivare, dem gesunden Menschenverstand zu folgen und das eigene Land nicht in eine widersinnige Lage zu versetzen, geben die Beamten verschiedener Ämter, unter ihnen auch der heutige Chef von Rosarchiv, Wladimir Koslow, die gleiche Antwort: „Die Publikation eines Dokuments kann nicht als Grund für die Aufhebung seiner Geheimhaltung dienen“.
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Quelle: Russland Online, www.RUSSLAND.ru, 14.2.2004