Stasi-Akten belasten „Verdiente Ärztin“ der DDR

Unter dem Decknamen „Ausmerzer“ landete ein Vorgang in der Sperrablage des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der jetzt Euthanasie-Vorwürfe gegen die bekannte Medizinerin und ehemalige Jenaer Universitätsprofessorin Rosemarie Albrecht zu bekräftigen scheint.

Die Staatsanwaltschaft Gera erhebt gegen die mittlerweile 88-jährige Frau Albrecht Anklage wegen Mordes. Die Ärztin soll in der Nazizeit eine Patientin des psychiatrischen Krankenhauses Stadtroda durch zu hohe Schlafmittelgaben getötet haben. Ursprünglich war gegen Albrecht in mehr als 159 unklaren Todesfällen ermittelt worden. 

Die ehemalige Dekanin der medizinischen Fakultät Jena bestreitet die Vorwürfe. Zum ersten Mal, seit der Thüringer Stasi-Landesbeauftragte Jürgen Haschke im März 2000 Anzeige erstattete, äußerte sie sich öffentlich zu den Euthanasie-Vorwürfen. Frau Albrecht erklärt, das Verfahren werde ihr nach jahrelangen öffentlichen Anschuldigungen endlich die Möglichkeit bieten, ihre Unschuld zu beweisen. „Ich habe keinen Grund, irgendetwas zu verheimlichen“, sagt Albrecht mit fester Stimme. „Ich habe keinem Menschen ein Haar gekrümmt!“ Zu einem Verhör sei sie sofort bereit. Der Anwalt der Ärztin argumentiert, das Verfahren hätte auf Grund der Verjährung eingestellt werden müssen. 
 
Die Ermittlungen gegen Albrecht dauern jetzt schon mehrere Jahre an. Ins Rollen gebracht hatten sie Akten der DDR-Staatssicherheit. Aus ihnen ging hervor, dass in den 60er Jahren Nachforschungen eingestellt worden waren, um auf hochgestellte Persönlichkeiten des DDR-Gesundheitswesens Rücksicht zu nehmen. Zu diesen zählte auch Albrecht.

Es geht um zwei fragwürdige Jahre der jungen Ärztin in der damaligen Thüringischen Landesheilanstalt Stadtroda. 1940 fand die Absolventin hier ihre erste Anstellung. Hier stieg sie in Zeiten des Ärztemangels schnell auf und leitete bald die psychiatrische Frauenstation mit 200 Betten. Einige ihrer Patientinnen überwies damals der Jenaer Arzt Jussuf Ibrahim, dessen Verstrickung in Euthanasie-Morde erst 2000 durch eine Kommission in Jena nachgewiesen wurde. Die nach ihm benannte Straße, auf der Rosemarie Albrecht wohnt, wurde in Forstweg umbenannt.

Die ungewöhnliche Zahl von 159 Todesfällen auf der Stadtrodaer Frauenstation gibt bis heute Rätsel auf. Schon 1964 hatte die DDR-Stasi Zweifel, ob „Herz- und Kreislaufschwäche“ der Behinderten wirklich als Todesursache in Frage käme, und ermittelte in Jena. Während auf andere ehemalige Jenaer Ärzte, die inzwischen im Westen lebten, mit dem Finger gezeigt wurde, blieb die inzwischen „national anerkannte und international bekannte“ Professorin Albrecht unbehelligt. Ihre Stasi-Akte enthüllt, dass das damalige MfS sich gegen genauere Untersuchungen sträubte. „Da die Angeklagte eine hohe Position bekleidet, könnte eine Untersuchung zu Ergebnissen führen, die im Gegensatz zu den Bedingungen unserer Gesellschaft stehen“, notierte ein Stasi-Offizier in ihrer Akte.

Die „Verdiente Ärztin des Volkes“ avancierte in Jena zu Deutschlands erstem weiblichen Ordinarius einer Hals-Nasen-Ohren-Klinik und zur Dekanin. Der bekannte Euthanasie-Forscher Ernst Klee wies allerdings schon 1985 auf wahrscheinliche Morde an „unwertem Leben“ in Jena und Umgebung hin. 1993 wurde in der Uniklinik erstmals öffentlich darüber diskutiert. Noch im Jahr 2000 gab aber Professor Eggert Beleites, Präsident der Landesärztekammer, eine Ehrenerklärung für Ibrahim ab und verfasste eine Laudatio auf Rosemarie Albrecht zu ihrem 85. Geburtstag.

Nach mittlerweile dreijährigen Ermittlungen hält die Staatsanwaltschaft Gera zumindest in jenem Fall für erwiesen, in dem die 34-jährige Patientin durch überhöhte Schlafmittelgaben getötet worden sei. – „Wir sind allesamt geschockt von diesen Enthüllungen“, sagt Andreas Bley, der Leiter der BStU-Außenstelle in Gera. „Die meisten Ostdeutschen dachten, sie stünden moralisch höher als der kapitalistische Westen Deutschlands, weil sie der offiziellen Linie Glauben schenkten, nach der der sozialistische Staat DDR den Nationalsozialismus ausgerottet habe.“

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Quellen: Independent, 14.2.2004; MDR, zuletzt aktualisiert: 27. Januar 2004; taz Nr. 7269 vom 28.1.2004, S. 12.

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