Um einen Tisch herum sitzen Männer und Frauen in einem erregten Disput. Die Fenstervorhänge sind zugezogen, ein trübes Licht hüllt die Diskussion ein, wirft Schatten auf die Gesichter. Heimlich lauscht am Nachbartisch einer auf das, was da geredet wird. Diese Szenerie ist Inhalt einer Druckgrafik, die den Titel „Der Streit“ trägt und im Jahre 1987 in Meißen entstanden ist.
Holt man sich jene Zeit ins Gedächtnis zurück, dann ist die dargestellte Szene geradezu exemplarisch für die Situation der Menschen in der DDR. Das System befand sich – ohne dass man sich dessen gewiss war – bereits im Auflösungsprozess. Nur ein knappes Jahr später wurde das Heft „Sputnik“ verboten, sowjetische Filme wurden aus den Kinos verbannt, das „Neue Forum“ begann sich zu organisieren. Bildende Künstler bewiesen Mut, indem sie sehr viel deutlicher zeigten, was die Menschen in jenen Tagen bewegte.
„Der Streit“ ist eine solche Grafik. Sie ist ein Bestandteil einer ganzen Mappe von Druckgrafiken, die der heute in Radebeul lebende und dort zur Künstlergemeinschaft des „Ateliers Oberlicht“ gehörende Markus Retzlaff, in den Jahren 1985 bis 1987 aus eigenem Antrieb und aus dem Gefühl heraus anfertigte, etwas gegen die Lethargie der Menschen unternehmen zu müssen. Mit der Grafikmappe aber ist eine sowohl spannende als auch recht abenteuerliche Geschichte verbunden. Gerade mal 22 Jahre alt war Markus Retzlaff, als er damals an den Druck der Mappe ging. Sieben Mappen des „Marktberichts 87“ druckte er in der Werkstatt seines Freundes Harald Türke in Dresden-Mickten. Zehn Blätter enthielt die Mappe, hinzu kamen zehn, im Zinkhochdruck gefertigte Gedichte, verfasst von Thomas Eichler, einem anderen Freund Retzlaffs. Beides – Gedichte wie Grafiken – bildeten eine einzigartige und gewissermaßen naive Kritik an den damaligen politischen Verhältnissen. Für 300 DDR-Mark wurde die Mappe unter der Hand verkauft. Auch Stefan H. – er lebt heute in Hameln – erwarb eine davon. Er wollte sie im April 1989 mit in den Westen nehmen und versteckte sie im Radkasten seines Pkw. Natürlich wurde er gefilzt, verhört und lange festgehalten, die Mappe wurde konfisziert und verschwand dann irgendwo in den Aktenkellern des MfS.
Dort übersah man sie im Trubel der Ereignisse des Herbstes 1989 wohl, und daher gelangte sie von dort aus später auch in das Archiv der Gauck-Behörde, wo sie elf Jahre lang vor sich hindämmerte. Markus Retzlaff selbst aber hatte eigentlich mit diesem Kapitel seiner künstlerischen Entwicklung abgeschlossen. Anfang der 90er Jahre begann er sein Studium an der Dresdner Hochschule und hatte den Kopf voll mit anderen Gedanken und Ideen. Als ihn mal der Meißner Holzbildhauer Lothar Sell anrief und ihm sagte „Du hör mal, in der Gauck-Behörde ist eine Mappe mit Druckgrafiken von dir aufgetaucht!“ nahm er das nicht weiter ernst.
Die Druckplatten für den „Marktbericht“ aber existierten noch und als ihn Stefan H. mal besuchte und vom tragischen Verlust seiner Mappe erzählte, druckte Markus Retzlaff ihm eine neue. Dann lagerte er die Druckplatten im Atelier 35 an der Dresdner Kunsthochschule ein – und vergaß sie. Einen Anruf seines Professors Claus Weidensdorfer, der ihn bat, die Druckplatten abzuholen, ignorierte er. So wanderten sie während der Sanierungsarbeiten in der Hochschule in die Bauschuttcontainer und verschwanden für immer.
2001 wurde Markus Retzlaff von Ilona Rau – einer Mitarbeiterin der Behörde – angerufen und mit den Worten „Die Grafikmappe liegt hier im Archiv“ nochmals an seine frühen Grafiken erinnert. Seit kurzem nun ist die Mappe wieder in seinem Besitz und die Ausstellung in der Gauck-Behörde wurde daher zur besten Gelegenheit, das grafische Frühwerk des Künstlers geschlossen zeigen zu können. Übrigens das erstemal überhaupt.
Info:
Markus Retzlaff: „Figürliche Grafik“ – „davor 1990 danach“ bis 23. April 2004
in der BStu-Außenstelle Dresden, Riesaer Straße 7.
Kontakt:
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Riesaer Straße 7
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Quelle: sz-online, 10.2.2004