Hitlers Befehl kein neuer Fund

Was in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. Januar von Hanns C. Löhr als „neuer Fund“ aus dem amerikanischen Nationalarchiv in Washington präsentiert wurde, um endlich, wie es ein wenig reisserisch in der Überschrift des Artikels hiess, „Hitlers Befehl“ zu belegen, ist ein alter Fund, so legt Michael Wildt heute in der NZZ dar.

Das Dokument, ein Vermerk Heinrich Himmlers vom 10. Dezember 1942, von der FAZ als Faksimile abgedruckt, ist mitnichten jetzt erstmals aufgetaucht, sondern seit langem der Forschung zugänglich und etliche Male zitiert worden. So verweist Richard Breitman in seiner Himmler-Studie, einem Standardwerk aus dem Jahr 1991, ebenso auf diesen Vermerk wie Peter Longerich in seinem Buch über Hitler und den Weg zur «Endlösung». Und in der vor fünf Jahren erschienenen Edition des «Dienstkalenders» Heinrich Himmlers wurde dieses Dokument bereits veröffentlicht und eingehend kommentiert.

Der Autor des Artikels meint mit diesem Vermerk erstmals belegen zu können, dass es eine persönliche Anweisung Hitlers gegeben habe, die französischen Juden zu ermorden. Worum ging es im Dezember 1942? Zu diesem Zeitpunkt hatte Hitler längst die Anweisung zur Ermordung von Kranken und Behinderten in der «Euthanasie-Aktion» gegeben, längst die verbrecherischen Mordbefehle für den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion erteilt. Auch hatten die Vernichtungslager in Chelmno, Belzec, Sobibor und Treblinka ihre mörderische Arbeit bereits aufgenommen. In Auschwitz wurden seit dem Juli 1942 jüdische Menschen aus ganz Europa systematisch selektiert; die «Arbeitsunfähigen», vor allem Kinder, Frauen und Alte, wurden in den Gaskammern ermordet. Darunter auch Tausende Juden aus Frankreich, um deren Deportation das Reichssicherheitshauptamt und insbesondere Eichmanns Männer sich intensiv bemüht hatten. An der Entscheidung zur Deportation der französischen Juden im Herbst 1941 war auch Hitler beteiligt gewesen. Im November 1942 änderte die Landung alliierter Truppen in Marokko und Algier die Lage in Frankreich fundamental. Um zu verhindern, dass sich das Vichy-Regime auf die alliierte Seite schlug, besetzte die Wehrmacht auch den Süden Frankreichs, und damit waren sämtliche Juden in deutscher Hand.

In dieser Situation führte Himmler eine seiner häufigen Unterredungen mit Hitler, um zu klären, wie es im besetzten Frankreich weitergehen sollte. In dem Treffen am 10. Dezember mit zahlreichen Besprechungspunkten kam auch das Schicksal der Juden zur Sprache. «3. Juden in Frankreich 600-700 000», steht auf Himmlers handschriftlichem Vortragszettel (der in der «FAZ» nicht erwähnt wird); daneben ein Haken und das Wort «abschaffen», das auf Hitler zurückgehen kann, aber nicht muss. In Himmlers nachträglich diktierter Gesprächsnotiz, eben jenem zum «neuen Fund» aufgebauschten Vermerk, heisst es dann dazu: «Der Führer hat die Anweisung gegeben, dass die Juden und sonstigen Feinde in Frankreich verhaftet und abtransportiert werden. . . . Es handelt sich um 6-700 000 Juden.»

Himmler und Hitler ging es seit 1941 um die Deportation sämtlicher in Frankreich lebender Juden, einschliesslich der französischen Staatsbürger jüdischen Glaubens, die die Vichy-Regierung als Einzige von der Deportation ausnehmen wollte. Die Besprechung am 10. Dezember 1942 ist nur ein Glied in einer Kette. Die Zahl von 600 000 bis 700 000 Juden ist deutlich überhöht und bezog offenbar die in Nordafrika lebenden Juden mit ein, worauf Götz Aly bereits 1995 hinwies. Hanns C. Löhr schreibt neun Jahre später den Satz: «Etwas merkwürdig erscheint auf den ersten Blick allerdings die hohe Anzahl von Opfern, die Himmler in seiner Niederschrift erwähnt.» – Merkwürdig ist wohl eher der Umgang mit angeblichen Archivfunden und Hitler-Befehlen. Ohne Zweifel sind Dokumente rar, die Hitler persönlich mit den Vernichtungsbefehlen des Regimes verbinden. Insofern ist dieser Vermerk Himmlers vom 10. Dezember 1942 ein wichtiger, er ist aber keineswegs der einzige Beleg und ein erstmaliger schon gar nicht.

Info:
Michael Wildt arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung; zuletzt erschien, von ihm herausgegeben, der Sammelband «Nachrichtendienst, politische Elite, Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS» (Hamburg 2003).
 
Quelle: NZZ, 28.1.2004

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