Bilder sprechen nicht selber

Das britische Nationalarchiv hat im Internet fünf Millionen Luftbilder der Royal Air Force aus dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht, die neben der Landung der US-Truppen am „Omaha-Beach“ auch Nazi-Gräuel zeigen (s. Nachricht). In der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung wird der Militärhistoriker Professor Gerd Krumeich (Düsseldorf) zu den digitalisierten Luftaufnahmen aus dem 2. Weltkrieg befragt.   
  
SZ: Herr Krumeich, haben Sie sich die Fotos im Internet angesehen?

Gerd Krumeich : Der Server ist völlig überlastet, man hat keinen Zugriff. Ich habe aber einige Bilder in der „Kulturzeit“-Sendung auf 3Sat gesehen, also einen Eindruck davon.

SZ : Teilen Sie die Auffassung des „Guardian“, der schrieb, dass diese Bilder, die auch ein brennendes Massengrab in Auschwitz zeigen, Hunderttausende von Menschenleben hätten retten können, wären sie noch im Krieg veröffentlicht worden?

Krumeich : So einfach ist das nicht. Sehen Sie, man darf den Diskurs von heute nicht einfach so mit dem von damals vermischen. Wir wissen heute so viel über das, was „die Alliierten“ damals hätte interessieren sollen und was sie auch interessiert hätte, wenn sie es genauer gewusst hätten. Natürlich kann man heute sagen, dass es seit 1943 präzise Informationen über Massenvernichtungen gab. Die Frage ist nur, was man von diesen Informationen hat glauben können und glauben wollen. Nach dem, was ich im Fernsehen gesehen habe, sind die Auschwitz-Bilder keineswegs so scharf, dass man ohne weiteres sagen kann: Da brennen Leichenhaufen! Sie sind nicht eindeutig.

SZ : Man sieht aber sehr deutlich ein KZ, Menschen, die herumlaufen und, in der oberen Ecke, weißen Qualm.

Krumeich : Ja. Aber wenn jemand gesagt hätte: Da werden Tierkadaver verbrannt. Wer hätte das entscheiden können? In der 3Sat-Sendung wurde behauptet, man hätte trotz der Luftbildaufnahmen, die eine sehr kleine Zahl britischer Intelligence-Offiziere auszuwerten hatten, „weggeschaut“. Aber nein! Sie haben nicht weggeschaut! Die Alliierten hatten ein Ziel: „knock out Germany“. Was sie interessierte, waren detaillierte Bilder von den IG-Farben-Werken acht Kilometer von Auschwitz entfernt. Natürlich fragt man sich, warum sie nicht trotzdem auch Bomben auf die Gleise von Auschwitz geworfen haben. Allerdings bin ich überzeugt, dass man sich anders verhalten hätte, hätte man präzise Informationen über Auschwitz gehabt.

SZ : Also sahen die Intelligence-Offiziere damals, so wie wir heute, auf den Bildern nur das, was sie schon wussten?

Krumeich : Allerdings. Das ist das Grundproblem der Imagologie: Erkenntnis und Interesse. Wir sind an bestimmten Inhalten interessiert und den Rest nehmen wir nicht unbedingt wahr. Marc Bloch hat einmal gesagt, die Todsünde des Historikers sei der Anachronismus. Etwas nicht aus seiner Zeit heraus zu beurteilen. Hegel vorzuwerfen, Marx nicht gelesen zu haben. Wir können den Offizieren von damals nicht vorwerfen, was sie auf den Bildern nicht gesehen haben.

SZ : Und was bedeuten die Aufnahmen heute für die Geschichtswissenschaft?

Krumeich : Es gibt detaillierte Aufnahmen von der Vorbereitung der von den Deutschen so genannten „Invasion“ in der Normandie. Wahrscheinlich ließe sich die Geschichte dieser Invasion anhand der Bilder bald neu schreiben. Da sind jetzt neue Quellen auf dem Tisch!

SZ : Wäre eine digitale Veröffentlichung von Luftaufnahmen aus dem Weltkrieg auch in Deutschland denkbar? Hier liegen sie verstreut in Bildarchiven und verschiedenen Ämtern.

Krumeich : Eine Sammlung deutscher Luftbilder wäre sicher nicht uninteressant. Doch muss man genau wissen, was man will. Bilder sprechen nicht selber. Bilder antworten auf Fragen.

Interview: Julia Encke

Quelle: SZ, 22.1.2004

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