Fall Sieburg: Warum die NS-Mitgliederkartei zweifelhaft ist

Die Frage bewegt seit Wochen historisch interessierte Gemüter: Konnte man Mitglied der NSDAP werden, ohne davon Kenntnis zu haben? Walter Jens, wortgewaltiger Intellektueller der alten Bundesrepublik, nimmt dies für sich in Anspruch. Michael Buddrus, Mitarbeiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, schließt dies hingegen aus, weil ein persönlich unterzeichneter Aufnahmeantrag zwingend erforderlich gewesen sei (F.A.Z. vom 25. November 2003). Zwar sind von verschiedener Seite inzwischen Bedenken gegen diese Einschätzung geäußert worden. Aber bislang konnte noch niemand beweisen, daß es Einzel- oder gar Sammelaufnahmen ohne das Wissen der Betroffenen gegeben hat.

Bislang unbekannte Dokumente zur NSDAP-Mitgliedschaft des Publizisten Friedrich Sieburg zeigen jetzt, wie groß mitunter die Schwierigkeiten sein können, wenn man auf dem Gebiet der Parteimitgliedschaften in der NS-Zeit zu sicheren Ergebnissen gelangen will. Sieburg (1893 bis 1964) war bis 1939 Auslandskorrespondent der „Frankfurter Zeitung“ und danach bis Ende 1942 als Botschaftsrat unter Otto Abetz in Paris tätig. Im Jahr 1956 übernahm er die Leitung des Literaturteils dieser Zeitung, er galt als führender Literaturkritiker der Adenauer-Ära.

Aufnahmeantrag abgelehnt

Das Sieburg betreffende Material nährt Zweifel an der Zuverlässigkeit der Angaben in der NSDAP-Mitgliederkartei. Folgt man den dort gemachten Einträgen, so hat der damalige Botschaftsrat Sieburg sich am 9. April 1941 um die Aufnahme in die NSDAP beworben. Zum 1. September 1941 wurde seinem Antrag stattgegeben, und er erhielt die Mitgliedsnummer 8537221. In Sieburgs Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet sich jedoch ein diesen Angaben widersprechender maschinenschriftlicher Brief vom November 1942, den das „Amt für Beamte“ in der NSDAP-Auslandsorganisation an ihn richtete.

Der Inhalt des Schreibens lautet: „Berlin-Wilmersdorf 1, den 28. 11. 1942. Persönlich! Herrn Botschaftsrat Friedrich Sieburg, Paris/Frankreich, Deutsche Botschaft über Landesgruppe der AO der NSDAP in Frankreich – Der Leiter der Auslands-Organisation der NSDAP hat Ihr Gesuch vom 9. 4. 1942 um Aufnahme in die Partei abgelehnt. Eine Mitteilung der Ablehnungsgründe kann bestimmungsgemäß nicht erfolgen. Heil Hitler! Schenk.“

Vielleicht nur ein Datierungsfehler?

Wie paßt das zusammen? Warum sollte Sieburg im April 1942 einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt haben, wenn er ihr doch schon seit einem halben Jahr angehörte? Ist es denkbar, daß er von dieser Mitgliedschaft nie erfahren hat? Warum ist man bei der Bearbeitung seines Aufnahmegesuchs aus dem Jahr 1942 nicht auf die Mitgliedsnummer gestoßen? Jedenfalls muß man annehmen, daß Sieburg wahrheitsgemäß zu antworten glaubte, als er nach Kriegsende im Fragebogen der französischen Militärregierung eine Mitgliedschaft in der NSDAP verneinte.

Welche anderen Erklärungsmöglichkeiten gibt es? Liegt vielleicht nur ein Datierungsfehler vor? Dafür spricht, daß es sowohl 1941 als auch 1942 gleichermaßen der 9. April gewesen sein soll, an dem Sieburg angeblich einen Aufnahmeantrag gestellt hat – eine auffällige, um nicht zu sagen: äußerst unwahrscheinliche Koinzidenz. Doch welche Daten wären dann zu korrigieren: die in der Mitgliederkartei oder die im Schreiben der NSDAP-Auslandsorganisation? Die Mitgliedsnummer gibt allenfalls einen groben Anhaltspunkt für eine zeitliche Einordnung. Für die auf den ersten Blick keiner Logik gehorchende Reihenfolge der Nummern gibt der auf den Internetseiten des Bundesarchivs verbreitete Aufsatz „Personenbezogene Unterlagen aus der Zeit des Nationalsozialismus“ eine Begründung. Danach wurden Mitgliedsnummern unmittelbar nach dem Eingang eines Aufnahmeantrags bei der Reichsleitung der NSDAP vergeben. Ist dieser abgelehnt oder zurückgezogen worden, hat man die Nummer einem anderen Antragsteller zugewiesen. Diese Erklärung basiert auf den Aussagen, die Anton Lingg, der Leiter des Mitgliedsamtes, im Januar 1947 bei einer Befragung im Internierungslager Regensburg gemacht hat. Ob sie jemals überprüft wurden, geht aus dem Aufsatz, der auch in einer gedruckten Fassung vorliegt, leider nicht hervor (Herold-Jahrbuch. Neue Folge. Verlag Degener & Co., Neustadt a. d. Aisch 2000. Hier die Seiten 147-186).

Sieburgs Rolle im „Dritten Reich“

Nehmen wir aber an, Sieburg habe nur einen Antrag gestellt, und zwar am 9. April 1941. Nehmen wir weiter an, der Verfasser des Schreibens der NSDAP-Auslandsorganisation habe seinen Bescheid tatsächlich erst eineinhalb Jahre später geschrieben, sich dabei vertippt und irrtümlich 1942 statt 1941 als Jahr der Antragstellung angegeben. Wie erklärt man dann, daß Sieburg laut NSDAP-Zentralkartei zum 1. September 1941 in die Partei aufgenommen wurde? Und vor allem: Warum wurde er dort trotz der ihm im November 1942 mitgeteilten Ablehnung seines Aufnahmegesuchs bis Kriegsende weiterhin als Mitglied geführt? Der Vorgang ist dubios. Alle Bemühungen, ihn aufzuklären, blieben bislang erfolglos.

Von der Lösung dieses Problems hängt die Bewertung von Sieburgs Rolle im „Dritten Reich“ indes nicht ab. Um zu ermessen, wie schillernd sein Verhalten war, reicht das Studium seines beruflichen Werdegangs und seiner Veröffentlichungen. Nach dem Beginn der journalistischen Laufbahn auf seiten der politischen Linken (er war unter anderem Mitarbeiter der radikaldemokratischen „Weltbühne“) bewegte er sich Ende der 1920er Jahre zunehmend nach rechts, pflegte Kontakte zum „Tat-Kreis“ um Hans Zehrer und befürwortete die Politik des 1934 beim sogenannten Röhm-Putsch ermordeten Generals Kurt von Schleicher. Sein Buch „Es werde Deutschland“, das 1932 geschrieben wurde, aber wegen erheblicher politischer Bedenken im Frankfurter Societäts-Verlag erst nach der „Machtergreifung“ erscheinen konnte, war ein flammendes Plädoyer für eine nationale Erneuerung, enthielt allerdings auch eine scharfe Kritik am Antisemitismus der Nationalsozialisten. Manche glaubten, unter ihnen Harry Graf Kessler und Kurt Tucholsky, das Buch sei eine Apologie Hitlers und seiner Politik. Doch die Partei las es genauer und zog es 1936 aus dem Verkehr. Sieburgs 1935 erschienene Biographie „Robespierre“ ist ebenfalls ein Zeugnis politisch nonkonformer Literatur im „Dritten Reich“, denn das Werk legt nahe, die deutsche mit der französischen Schreckensherrschaft zu vergleichen. Der nach Frankreich emigrierte Publizist Wolf Franck schrieb damals in einer Rezension für die Exilzeitschrift „Das Tage-Buch“: „Das kann Historie sein, – es gibt dennoch kaum eine Seite, auf der der Leser nicht hundertfünfzig Jahre weiter und neunhundert Kilometer abseits gelenkt wird. Dies ist zumindest der Effekt des Buches. Es hieße, einen Autor unterschätzen, wollte man ihm zutrauen, daß ein so starker Effekt unabsichtlich entstanden sei. Ganz unmißverständlich war es Sieburgs Absicht, an Dinge unserer Gegenwart zu rühren, – und es möglichst unmißverständlich zu tun.“

Politisches Bekenntnis bleibt interpretationsbedürftig

Betrachtet man Sieburgs weiteres Verhalten bis 1945, so folgte er offensichtlich einer Maxime, die er in seinem 1929 veröffentlichten Buch „Gott in Frankreich?“ zum besten gab: „Der Realist gibt dem Teufel den kleinen Finger in der Hoffnung, dann wenigstens die andere Hand frei zu haben.“ Sein vor moralischen Skrupeln nicht gerade strotzender Pragmatismus brachte es im März 1941 mit sich, daß er in einer „France d'hier et de demain“ überschriebenen Rede vor der „Group Collaboration“ in Paris erklärte, er sei durch das Leben in Frankreich „zum Kämpfer und Nationalsozialisten“ erzogen worden.

Es gibt also anders als bei Walter Jens nicht den geringsten Anlaß, an Sieburgs politischem Konformismus und seiner Absicht zu zweifeln, Anfang der 1940er Jahre Mitglied der NSDAP werden zu wollen. Daß man sie ihm schließlich verwehrte, erscheint angesichts seiner politischen Haltung in der Weimarer Republik wenig erstaunlich. So eindeutig Sieburgs politisches Bekenntnis kurz vor Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg aber auch war, so interpretationsbedürftig bleibt es. Nicht ein bislang bekanntgewordenes Dokument spricht etwa für die Annahme, er habe Verbrechen des NS-Regimes gutgeheißen. Doch wie gesagt: Zu einem differenzierten Gesamtbild trägt der Beweis oder die Widerlegung einer NSDAP-Mitgliedschaft nichts Entscheidendes bei.

Noch viel zu tun

Vor dem Hintergrund der jüngsten Debatten um die politischen Jugendsünden deutscher Gelehrter gewinnt die Auseinandersetzung mit diesem Fall jedoch eine andere Bedeutung. Denn die widersprüchlichen Dokumente über Sieburgs Parteimitgliedschaft geben Anlaß, über die unumstößliche Beweiskraft der Einträge in der NSDAP-Zentralkartei weiter nachzudenken. Vor allem erscheint es dringend geboten, daß sich Historiker über die zahlreichen noch unerschlossenen Quellen beugen. So soll es, wie von der „Stuttgarter Zeitung“ unlängst gemeldet wurde, bei den Entnazifizierungsverfahren in der schwäbischen Landeshauptstadt eine Reihe von Fällen gegeben haben, bei denen Angeklagte unwissentlich Parteimitglied gewesen seien. Zu prüfen wäre daher, ob in den erhaltenen Akten lediglich die meist wenig bis gar nichts beweisenden Erinnerungsprotokolle und Zeugenaussagen zu finden sind oder auch aussagekräftige amtliche Dokumente aus der Zeit vor 1945. Zu suchen wäre besonders nach offiziellen, beispielsweise städtischen Schreiben, in denen ausdrücklich auf eine nicht vorhandene oder wie bei Sieburg abgelehnte Parteimitgliedschaft Bezug genommen wurde, obwohl die NSDAP-Zentrale die Betroffenen als Mitglied geführt hat. Fünfhunderttausend Faszikel mit den Stuttgarter Spruchkammerakten, die etwa tausend Regalmeter füllen, lagern bis heute unaufgearbeitet im Staatsarchiv Ludwigsburg. Auch von den zu achtzig Prozent überlieferten Parteiakten ist kaum mehr als ein Prozent ausgewertet worden. Mit anderen Worten: Es gibt noch sehr viel zu tun.

Info:
Der Verfasser Gunther Nickel ist Mitherausgeber des „Geheimreports“ von Carl Zuckmayer. Er arbeitet beim Deutschen Literaturfond und lehrt Neuere deutsche Literaturgeschichte in Mainz.

Quelle: FAZ, 21.1.2004, Nr. 17, S. 33

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