Zeitdokument schlummerte in der Schublade

„Am 11. kamen die Amerikaner nach Westick“, erzählt Erna Plaßwich in ihrem Tagebuch. Die Kladde mit den Aufzeichnungen der Westickerin über den April 1945 und die Nachkriegswirren der Jahre 1945 bis 1947 geriet durch Zufall in die Hände von Marc Woller, dem neuer Kaiserauer Ortsheimatpfleger.

Der Ehemann durch die Amerikaner verhaftet, ein Sohn lange vermisst und dann für Tod erklärt. Erna Plaßwich, geborene Heiner hat Krieg und Nachkriegszeit mit all ihren Schrecken erlebt. An der Mühlenstraße in Westick lebte sie und schrieb dort auf, was in diesen turbulenten Monaten passierte. 1969 starb sie, die Kladde mit ihren Aufzeichnungen schlummerte danach über viele Jahre vergessen in irgendeiner Schublade. Vor einiger Zeit dann fielen die Aufzeichnungen in die Hände von Marc Woller.

Den ehemaligen Dortmunder verschlug es inzwischen ebenfalls nach Westick, an die Mühlenstraße. Familienkontakte und nicht zuletzt Ortsheimatpfleger Ulrich Neumann weckten sein Interesse für die Methleraner und Kaiserauer Geschichte. Inzwischen hat er eigene Recherchen angestellt, manch Erinnerungsstück an örtliche Geschichte im Internet ersteigert, alte Fotos am Heim-PC gescannt und sich geschichtliche Kenntnisse angelesen. Künftig will er sich als Ortsheimatpfleger um die Kaiserauer Ortsgeschichte kümmern.

Faszinierend ist für ihn gerade hautnah erlebte Geschichte, Traditionen der Nachbarschaft, Erzählungen von Zeitzeugen. Das Tagebuch aus und über Westick ließ ihm daher keine Ruhe. Geschrieben aber war es in Sütterlin, auf den ersten Blick nicht zu enträtseln. Stadtarchivar Jürgen Kistner half mit einer Einführung in die heute ungewohnten Schriftzeichen, ältere Nachbarn und verwandte entzifferten schwierige Textstellen. Von Seite zu Seite wurde das Lesen einfacher. Inzwischen hat Marc Woller das gesamte Werk „übersetzt“.

Weiter schlummern lassen wollte er das ganz nicht. Die Kladde will er dem Stadtarchiv überlassen, den Inhalt aber Westickern und anderen Interessenten offen legen. Ab Februar wird die WR in einer Serie Auszüge drucken, zum Teil ergänzt um Informationen aus dem Stadtarchiv.

Kleine und große Geschichte(n) tauchen darin auf, Weltereignisse und ganz persönliches Hoffen und Leiden. Die Potsdamer Nachkriegskonferenz aus Westicker Sicht wird hier erzählt, der Hunger bei 100 g Fleisch die Woche und einem Pfund Butter pro Pro Person. Es geht um Hamsterfahrten, um Entnazifizierung, aber auch um das ganz persönliche Leben in Westick am Ende eines Weltkrieges wird geschildert. Vom Kampf gegen Kartoffelkäfer und die Beseitigung von Bombentrichtern und Hausschäden berichtet Erna Plaßwich.

Ein seltenes Dokument hat er dort entdeckt, so weiß Marc Woller. Die Berichte der Westickerin liefern Momentaufnahmen aus dem Stadtteil, Blicke nach Kamen und Empfindungen, die in Stadt und Region wohl ähnlich empfunden wurden.

Kontakt:
Stadtarchiv Kamen
Bahnhofstr. 21
D-59174 Kamen
Telefon: 02307-5534-12 /-13
Telefax: 02307-553414
E-mail: rathaus@stadt-kamen.de

Quelle: Westfälische Rundschau, 20.1.2004

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