Zwei Jahre lang haben die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) und die Diakonischen Werke (DWHN und DWKW) beider Regionen nach Spuren von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in ihren Einrichtungen während des Dritten Reiches suchen lassen. Das Ergebnis steht nun fest: 261 Personen konnten namentlich nachgewiesen werden. Der Marburger Historiker Dirk Richhardt, der im Auftrag von Kirche und Diakonie geforscht hat, stellte heute in Frankfurt das Buch mit den Ergebnissen der Untersuchungen vor. Bei der Präsentation wurden viele Zahlen, aber keine konkreten Orte – etwa in unserer Region – genannt. Wer sich dafür interessiert, sollte sich das Buch – mit 6 Euro durchaus erschwinglich – kaufen (Angaben am Ende des Artikels)
Der Autor sagte – nach Angaben der Evangelischen Kirchen und Diakonie heute -, er habe zwar „mit dem feinst möglichen Sieb nach Spuren gesucht“. Es sei aber nicht auszuschließen, dass es noch mehr Betroffene gegeben habe. Das jetzt veröffentlichte Ergebnis basiere auf allen heute zugänglichen Akten in den etwa 30 Archiven und 10 Dokumentationsstellen in ganz Deutschland, insbesondere in den beiden Kirchengebieten, das Hessen und Teile von Rheinland-Pfalz und Thüringen umfasse, sowie auf Berichten von Augenzeugen und Unterlagen in den Einrichtungen selbst.
Demnach haben neun Menschen zwangsweise Hausarbeit in evangelischen Pfarrhaushalten geleistet. Von den insgesamt 313 Diakonischen Einrichtungen haben 26 Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter beschäftigt, insgesamt 252 Menschen. Bei 39 Prozent von ihnen konnte nachgewiesen werden, dass sie in der Garten- und Feldbewirtschaftung eingesetzt waren, 21 Prozent in der Hauswirtschaft, wenige auch in der Pflege von Kranken oder Behinderten selbst. Die 261 Personen in diesem Bereich hätten 0,4 Prozent aller Zwangsarbeiter im Gebiet von Hessen ausgemacht. Dort wurden für das Jahr 1944, dem Jahr mit der höchsten Anzahl, 170.000 Personen nachgewiesen, die Zwangsarbeit verrichten mussten.
Mit 44 Prozent kamen fast die Hälfte der Betroffenen aus Polen, 34 Prozent stammten aus der damaligen Sowjetunion, 12 Prozent aus West- und Nordeuropa gekommen. Der Frauenanteil betrug 54 Prozent. Das Alter der Frauen lag zwischen 15 und 68 Jahren und das der Männer zwischen 14 und 67, wobei die Mehrzahl, etwa 33% der zur Arbeit Gezwungenen, Anfang Zwanzig war. Der Altersdurchschnitt lag mit 28,6 Jahren etwa sechs Jahre über dem Durchschnitt der Zwangsarbeiter im damaligen Reichsgebiet.
Richhardt wies weiter darauf hin, dass der Begriff Zwangsarbeit erst nachträglich geprägt worden sei. In der NS-Zeit habe es ihn noch nicht gegeben. Die betroffenen Personen seien in der Tradition der „Fremdarbeiter“ gesehen worden, wie sie bereits vor dem „Dritten Reich“ als Wander- oder Saisonarbeiter auch freiwillig gekommen waren. Die zwangsweise Verschleppung, die dann im Laufe des Krieges einsetzte, sei offenbar nur wenigen bekannt gewesen. In den kirchlichen Einrichtungen waren die Betroffenen meist in den normalen Arbeitsalltag integriert gewesen. Allerdings wurden sie entsprechend der rigiden staatlichen Vorschriften separat und schlechter untergebracht und sehr viel schlechter bezahlt als andere Arbeiter.
Richhardt: „Die Recherche, insbesondere die subjektiven Quellen wie Briefe und Gespräche mit den Zeitzeugen legen den Schluss nahe, dass sich viele Mitarbeitende in den kirchlichen Einrichtungen in hohem Maß an die Normalität des Unrechtes in diesen Jahren gewöhnt hatten und – ähnlich wie die Mehrheit der Gesellschaft – versucht habe, ihr persönliches Leben darin „so normal wie möglich“ zu gestalten. Viele kirchliche und diakonische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich im persönlichen Umgang durchaus human verhalten, sich gegenüber der politischen Dimension des Unrechts aber dennoch gleichgültig gezeigt.“
Der Autor erinnert in seiner Publikation außerdem daran, dass viele der größeren Einrichtungen unter staatlicher Verwaltung gestanden hätten. So sei etwa der Leiter der Nieder-Ramstädter Diakonie bei Darmstadt, Pfarrer Schneider, inhaftiert gewesen. Unter der Leitung eines Kommissars sei auf dem Gelände der Nieder-Ramstädter Heime dann ein Auffang- und Durchgangslager für Zwangsarbeiter eingerichtet worden, in dem auch die kirchlichen Beschäftigten arbeiten mussten. Richhardts Forschung förderte auch „Widerständigkeiten“ zu Tage. So gelang es dem Pfarrer von Oberweimar bei Marburg, einer vorbeiziehenden Wehrmachtseinheit zwei Frauen „abzunehmen“, die dann im Pfarrhaus arbeiteten. Dies offenbare durchaus persönlichen Mut und Verantwortungsgefühl. Ob durch solche Aktionen das System Zwangsarbeit gemildert werden konnte, sei allerdings zweifelhaft, weil „der Bedarf dann durch neue Verschleppte gedeckt“ worden sei.
Der Historiker warnte vor kurzschlüssigen Bewertungen. Es sei schwer, die komplexe Lebenswirklichkeit dieser Jahre von heute aus gesehen zu durchdringen und zu bewerten: „Zu unterschiedlich waren die Einzelschicksale, zu spröde oft das Quellenmaterial.“ Besonders tragisch sei, dass viele der 1945 heimkehrenden Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter zuhause als „Kollaborateure“ eingestuft und in Lagern inhaftiert worden waren. Aus diesem Grund hätten viele bis heute diesen Teil ihrer Biografie verschwiegen. In dem Buch habe man deshalb auch keine Namen veröffentlicht und habe sehr sorgsam auf den Persönlichkeitsschutz geachtet, um die Rechte dieser Menschen nicht noch einmal zu verletzen.
Der nordhessische Bischof Dr. Martin Hein (EKKW) nannte das Forschungsergebnis ob der methodisch soliden Arbeit und der ans Licht gebrachten Erkenntnisse „beeindrucken und bedrückend zugleich“. Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck fühle gegenüber den in ihren Einrichtungen beschäftigten Zwangsarbeitern Schuld und Verpflichtung. Die Kirche sei dankbar für Begegnung mit den Betroffenen und sehe es als ihre Aufgabe an, „auch hier den Weg der Versöhnung zu beschreiten.“
Die Kirchen und ihre Diakonischen Werke sind über die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beteiligt in der bundesweiten Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Um ihre gesamtgesellschaftliche Mitverantwortung auch an diesem Punkt deutlich zu machen, hat die EKD im Herbst 2000 einen Betrag von zehn Millionen Mark an die Bundesstiftung gezahlt, der anteilig von den Gliedkirchen der EKD und deren Diakonischen Werken aufgebracht wurde..
Nach Auskunft der Pressesprecherin des Diakonischen Werkes von Hessen und Nassau, Kathleen Niepmann, versuchen die Evangelischen Kirchen und die Diakonischen Werke nun, mit den Betroffenen in Kontakt zu kommen. Entsprechende Anfragen seien bereits vor Monaten an die Partnerorganisationen in den fraglichen Herkunftsländern gestellt worden. Vereinzelt seien auch schon Ergebnisse zu verzeichnen. Gerne wolle man die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter einladen. Viele seien interessiert, noch einmal an ihre ehemaligen Arbeitsstätten zu kommen und ehemalige „Kolleginnen“ zu treffen. Das helfe ihnen, mit den Erfahrungen und dem Leiden von damals heute besser fertig zu werden. Diese Erfahrung sei bei über 20 Begegnungstreffen, die die Evangelische Kirche in den vergangenen Jahren mit Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern aus Weißrussland organisiert habe, immer wieder gemacht worden.
Info:
Das Buch ist unter dem Titel „Zwangsarbeit im Bereich von evangelischer Kirche und Diakonie in Hessen“ als Band 8 in der Schriftenreihe „Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte“ erschienen. Es kostet sechs Euro und kann über den Buchhandel, die evangelischen Kirchen oder die diakonischen Werke bestellt werden. (Bestelladresse bei der EKHN per Email: info@ekhn.de oder FAX: 06151 / 405-441.)
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Quelle: Osthessen News, 19.1.2004