Die hitzigen Debatten des Sommers um das Jahr 1945 und das Leiden der Deutschen am verlorenen Krieg haben mittlerweile einer milderen Stimmung Platz gemacht, die der Jahreszeit angemessener ist und nach Versöhnung heischt, schreibt Christian Jostmann für die SZ in seiner Besprechung des zweiten Bandes der Dokumentation „Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950“. Was immer die Gefühlsaufwallungen veranlasst haben mag, die Krise des Sozialstaats oder die Verkaufsstrategien marktkonformer „Emotionalisten“ – zurückgeblieben ist ein Haufen zerschlagenes Porzellan vor allem in den deutsch-polnischen Beziehungen. Und die bittere Erkenntnis auf seiten der Berufshistoriker, dass die Öffentlichkeit die differenzierten Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung zu den Themenfeldern der Debatte weitgehend ignoriert.
Der Gefahr, übersehen zu werden, dürfte auch das hier vorzustellende Buch über die Vertreibung der Deutschen aus Schlesien ausgesetzt sein. Es ist der zweite von insgesamt vier Bänden mit Dokumenten aus polnischen Archiven, die ein polnisch-deutsches Forscherteam in der Rekordzeit von zwei Jahren ausgegraben und zunächst auf Polnisch publiziert hat. Nun erscheinen sie in deutscher Übersetzung. Die ausgewählten Dokumente – Beschlüsse der kommunistischen Regierung, Akten der Militär- und Kommunalverwaltung, Berichte der Propagandabehörden, Zeitungsartikel, Bekanntmachungen – zeigen die Vertreibung aus der Sicht der Täter. Ihnen sind ausführliche, den historischen Kontext erhellende Einleitungen vorangestellt.
Die Dokumente zeichnen das Bild einer hoffnungslos überforderten polnischen Regierung und Zivilverwaltung in den Gebieten östlich von Oder und Neiße, die sich vielfältigen Handlungszwängen ausgesetzt sah. Die Pläne für die „Entdeutschung“ waren bei den Verhandlungen der Alliierten und auf den Schreibtischen der polnischen Exilregierung in London entstanden. Zum einen waren sie eine Reaktion auf das brutale deutsche Besatzungregime in Polen, zum anderen ergaben sie sich zwangsläufig aus dem Willen Stalins, die im Pakt mit Hitler gewonnenen ostpolnischen Gebiete nicht wieder herauszugeben. Die dort lebenden Polen mussten irgendwohin, und so wurde beschlossen, sie in den neuen Westen Polens zu „repatriieren“.
Es war ja nicht so, dass die kommunistische Regierung nach dem Krieg keine anderen Sorgen gehabt hätte. So hatte sie große Schwierigkeiten, bei der polnischen Bevölkerung Anklang zu finden. Zudem musste sie das Wirtschaftsleben wieder in Gang bekommen, dafür sorgen, dass überhaupt die Felder bestellt und die Ernten für den Winter eingefahren wurden. Dazu kam nun die Aufgabe, Millionen Polen nach Westen umzusiedeln und die dort lebenden Deutschen außer Landes zu schaffen. Und dies möglichst, bevor die Alliierten in Potsdam einen anderen Beschluss fassten. Oftmals auch gegen den Widerstand der Roten Armee, die die Vertriebenen nicht in den von ihr verwalteten Gebieten aufnehmen wollte. Viele Dokumente zeigen, dass es Probleme bereitete festzustellen, wer überhaupt ein Deutscher war und wer nicht. Das Chaos war vorprogrammiert – und schuf Raum für Denunziation, Ausschreitungen, Raub, Vergewaltigung und Mord.
Info:
WLODIZMIERZ BORODZIEJ, HANS LEMBERG (Hrsg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden . . . “. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Bd. 2. Zentralpolen. Wojewodschaft Schlesien. Verlag Herder-Institut, Marburg 2003. 768 Seiten, 75 Euro.
Quelle: SZ, 5.1.2004