Der Streit um die Einschätzung des Nauroder Heimatdichters Rudolf Dietz und die persönlichen Angriffe des Vorsitzenden der CDU-Fraktion, Bernhard Lorenz, gegen Mitarbeiter des Wiesbadener Stadtarchivs beschäftigte gestern erneut das Stadtparlament. Die Grünen hatten sich per Antrag für die Archivare stark gemacht (siehe auch die Pressemitteilungen der Grünen vom 2.10. und vom 14.10.). Nach über einstündiger Debatte erklärte eine Mehrheit aus CDU, FDP und Republikanern die Sache für „durch Aussprache erledigt“.
Mitarbeiter der Stadtverwaltung seien „kein politisches Freiwild für junge wild gewordene Fraktionsvorsitzende“, mahnte Hubert Müller (Grüne) eine Entschuldigung von Lorenz und klare Rückendeckung für das Stadtarchiv von Oberbürgermeister Hildebrand Diehl an. Doch müsse man zur Kenntnis nehmen, dass Lorenz „sein Vergaloppieren nicht zugibt und nicht die Größe besitzt, sich bei den Mitarbeitern des Stadtarchivs zu entschuldigen“. Scharf kritisierte Müller das Redeverbot, das OB Diehl nach dem Vorfall über städtische Mitarbeiter verhängt hatte.
Für die CDU erwiderte Andreas Guntrum, ob Dietz Antisemit gewesen sei oder nicht, lasse sich nicht per Parlamentsbeschluss festlegen. Guntrum wiederholte die Vorwürfe des CDU-Fraktionsvorsitzenden, die Archivare hätten bei ihrer Beurteilung des Heimatdichters die Grundprinzipien wissenschaftlichen Arbeitens nicht beachtet: „Sie haben eine voreingenommene, schlampige und unwissenschaftliche Arbeit vorgelegt“.
Diese neue Attacke auf ihre Mitarbeiter wies Kulturdezernentin Rita Thies zurück. „Man fasst die Nachricht nicht und erschlägt den Überbringer“, beurteilte sie das Verhalten der CDU. Die Archivare hätten nie den Auftrag gehabt, ein wissenschaftliches Gutachten zu verfassen. Es sei nur um eine Stellungnahme gegangen.
Nachdem Guntrum eine „wissenschaftliche und rechtsstaatlich saubere“ Aufarbeitung gefordert hatte, hielt Peter Schickel (SPD) ihm die Ergebnisse der Nauroder Ortsbeiratsdiskussion vor. Selbst der habe erkannt, dass Teile des Dietzschen Werks problematisch und peinlich seien. „Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, was das für Inhalte sind“, so Schickel.
Stefan Krakowka (CDU) mokierte sich über „die unglaubliche Arroganz, mit der Sie auf einem Toten herumtrampeln, der sich nicht wehren kann“. Falls eine genaue Analyse Rudolf Dietz als Antisemit bewerte, sollte man „unter Umständen eventuell Konsequenzen ziehen“, so Krakowka.
Mehrfach nutzten Redner der „Republikaner“ die Gelegenheit, ihre Ideologie zu verbreiten, ließen sich über Antisemitismus und über Martin Hohmann aus. Ex-Republikaner Hirzel sprach vom „völkischen Grundgesetz“.
„Bereiten Sie diesem unseligen Unfug ein Ende“, mahnte SPD-Fraktionschef Rolf Praml Lorenz zur Entschuldigung, er nannte die Debatte „eine Schande für die Stadt“. Bernhard Lorenz schwieg.
Anfang November hatte auch DER SPIEGEL unter der Überschrift „Kulturkampf in Wiesbaden“ über die Auseinandersetzungen in Wiesbaden berichtet:
Vier vergilbte Zähne werden im Heimatmuseum von Wiesbaden-Naurod aufbewahrt – auf grünem Filz und unter Glas. Neben Rasiermesser, Brillen, Spazierstock und zahlreichen Fotos und Büchern. Diese Zähne waren einst dem Heimatdichter Rudolf Dietz gezogen worden. Und er – ein Poet für alle Gelegenheiten- hatte die schmerzhafte Operation in neckischen Versen verewigt.
Die Nauroder lieben „ihren Rudolf“, manche nennen ihn „nassauischen Goethe“, sie kennen ihn auswendig, zitieren ihn auf Hochzeiten und Beerdigungen. Für Alwin Becht, 72, dem Vorsitzenden des Geschichts-und Heimatvereins, ist er „der größte Sohn der Gemeinde“. Die Wander- und Heimatlieder des schriftstellernden Lehrers, der 1863 in Naurod geboren wurde und 1942 in Naurod starb, werden heute noch gesungen. Die Schüler der dritten Klasse lernen bis heute im Sachkundeunterricht zwei bis drei seiner Gedichte. Natürlich nur die netten.
Neben Märchen, Tiergeschichten und Theaterstücken für Laiendarsteller flossen auch Werbe-Sprüchlein für „Zobus Senf“ und „Rheingau Schokolade“ aus seiner Feder. An die 15 Straßen und Plätze in der Region sind nach ihm benannt, sowie ein paar Quellen im Nassauischen, dem Gebiet zwischen Wiesbaden und Limburg an der Lahn. Schon seit 1957 ist Rudolf Dietz Namenspatron der Nauroder Grundschule.
Und genau darüber hat sich das idyllische Dorf am Rande des Taunus, das seit 1977 Stadtteil der Landeshauptstadt Wiesbaden ist, in zwei emotionsgeladene feindliche Lager gespalten. Der Verse schmiedende Biedermann mit dem Zwirbelbart und dem Kneifer, der im Kreise seiner Familie so freundlich aus den alten Fotos lächelt, ist nach Ansicht seiner Kritiker ein „doppelter Rudolf“ dessen düstere Seite heute verborgen wird.
Rassistische Häme
Neben den launigen Liedern über die Freuden und Leiden seiner Mitmenschen hat Rudolf Dietz nämlich mindestens 30 Gedichte geschrieben, in denen er mit rassistischer Häme über „Schmuhlche“, „Mosesche“ oder „Nathansche“ herzieht, die „die klaane Leit“ ausplünderten.
Dietz lässt kaum ein antisemitisches Klischee aus, stellt in einem Gutachten das Stadtarchiv Wiesbaden fest: Juden sind hässlich, geldgierig, verlogen, kriminell, Kinder wollen nicht neben ihren stinkenden jüdischen Mitschülern sitzen. Diese erschreckenden Texte – alle in der lieblich klingenden hessisch-nassauischen Mundart – habe Dietz – so die Aussage seines Zeitgenossen Werner Prediger- sogar bei Schulfeiern vorgelesen.
Mehr noch. Schon vor der Machtergreifung Hitlers gehörte der Heimatdichter zum berüchtigten „Deutschbund“ einer antisemitischen, faschistischen Vorläuferorganisation. Im April 1933 trat er dann in die NSDAP ein. Nicht etwa eine Jugendsünde. Dietz war damals schon 70 Jahre alt und als Lehrer pensioniert. In mehreren Gedichten bejubelt er die Machtergreifung Hitlers, so in seinem 1936 veröffentlichten Gedicht „Reichslied“ und beschwört die Einigkeit „unterm Hakenkreuz“. Die beiden letzten Zeilen der Propaganda-Reime: „Nie mehr trennt ein fremder Keil, uns're Treuschar. – Hitler Heil!“
Im siebenköpfigen Ortbeirat (CDU,4, SPD,2, Grüne,1) wurde in einer turbulenten öffentlichen Sitzung beschlossen, sich zwar „vom politischen Dietz“ zu distanzieren, den Namen der Schule jedoch nicht anzutasten. So einfach scheint das zu sein. „Es ist unfair aus unserem heutigen Denken den Stab über etwas zu brechen, was in der damaligen Zeit nichts Ungewöhnliches war“, argumentierte Hermann Stöcker, CDU, in seinem Rundbrief an die Bürger Naurods.
Kritiker werden als „Nestbeschmutzer“ beschimpft
Allein der Grüne Hans-Jürgen Anderle stimmte für die Umbenennung und wurde dafür öffentlich als „Nestbeschmutzer“ beschimpft: „Ich weiß, dass Dietz ein eher kleiner Fisch war. Nur leider gab es viel zu viele dieser „kleinen Fische“, sagt Anderle, „wir können die Kindern nicht die Ideale von Demokratie und Toleranz lehren, wenn ihr Schulpatron das Gegenteil gelebt hat.“ Außerdem verstießen die Parteien, die das zuließen gegen das hessische Schulgesetz und gegen das Grundgesetz.
Zwar hatte das Lehrerkollegium der Rudolf-Dietz-Schule geschlossen für einen neuen Namen gestimmt. Aber die Schulkonferenz kippte zwar nur mit einer Stimme Mehrheit den Beschluss. Schulleiter Bernd Siebold gibt sich gelassen: „Wir haben trotz des Namens 45 Jahre lang gute pädagogische Arbeit geleistet, und wir werden das weiterhin tun, wie immer unsere Schule heißt.“
Weniger entspannt ist die Atmosphäre im Dorf. In vielen Geschäften werden Unterschriften für Rudolf Dietz gesammelt. Es wird getuschelt, Nachbarn grüssen sich nicht mehr. An einigen hölzernen Hoftoren kleben Pamphlete, die auch in den beiden Wiesbadener Tageszeitungen als Anzeige erschienen. Darin bezichtigen zwei Nauroder Bürger die Befürworter der Umbenennung des „Hangs zur Diktatur“.
Der Konflikt um den umstrittenen Heimatdichter Rudolf Dietz hat Kreise gezogen: Zweimal schon hat die Stadtverordnetenversammlung der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden das heikle Thema auf der Tagesordnung gehabt. Bisher hat sich das Stadtparlament um eine Abstimmung gedrückt.
„Dann müssten wir auch Kant-, Hegel-, Fichte-, Luther- und Marx prüfen“
Denn auch hier steht die Front der Verweigerer. Da sind auf der einen Seite die grüne Fraktion und die SPD, die im Gegensatz zu ihren Nauroder Genossen für die Umbenennung sind. Auf der anderen Seite stehen geschlossen die CDU und die Fraktion der Republikaner. Die FDP ist gespalten und hat für die Abstimmung den Fraktionszwang aufgehoben.
Eine ganz besondere Begründung für die Ablehnungsfront hat sich der Wiesbadener CDU-Fraktionschef Bernhard Lorenz zurechtgebastelt: „Wir wollen Dietz nicht reinwaschen. Aber wenn man seinen Namen streicht, dann muss man auch alle Kant-, Hegel-, Fichte-, Luther- und Marxstrassen auf den Prüfstand stellen.“ Alle diese in Deutschland so verehrten Denker hätten sich antisemitisch geäußert.
Jetzt hat sich Oberbürgermeister Hildebrand Diehl (CDU) in den Streit um den Heimatpoeten eingeschaltet. Er will einen Prominenten finden, der per Gutachten Rudolf Dietz ein Gütesiegel verpasst – oder auch nicht. Letzte Woche erhielt er eine erste Absage von dem Historiker Michael Wolffsohn, Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Wolffsohn dankte für die „wertvolle Aufgabe“, für die er jedoch leider keine Zeit habe. Der Streit um die Frage, ob die Grundschule des Wiesbadener Stadtteils Naurod den Namen des umstrittenen Mundartdichters behalten soll, geht weiter.
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Quelle: Wiesbadener Tagblatt, 5.12.2003, SPIEGEL online, 6.11.2003.