St.-Galler-Stadtgeschichte in zwei Archiven

Zwei Bestände, zwei Archivare, unterschiedliche Trägerschaften: Das eine Stadtarchiv enthält die Altbestände aus der Zeit der Stadtrepublik, das andere nur Quellen zur modernen Stadt.

Stefan Sondereggers Lieblingsdokument aus «seinem» Archiv ist das Stadtbuch mit dem ersten Stadtgesetz, das 1312 begonnen wurde. Ihn fasziniert, wie die Stadt damals anfing, sich selber zu verwalten, losgelöst von der äbtischen Herrschaft. Marcel Mayer wählt das Niederlassungs- und Aufenthaltsregister von 1803 bis 1918. Es wird derzeit in einer Datenbank erfasst und gibt Aufschluss darüber, wie die städtische Gesellschaft mit dem Anziehen der Wirtschaft immer heterogener wurde.

Beide Episoden waren von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung der Stadt. Doch beide lagern in verschiedenen Archiven.

Erst seit 1986 gibt es ein zentrales Archiv der politischen Gemeinde, dem heute Marcel Mayer vorsteht. Er ist zuständig für die Akten der Gemeinden St. Gallen seit der Zeit von 1798 bis 1831 sowie – vor der Stadtverschmelzung – Tablat und Straubenzell. Das Archiv der Ortsbürgergemeinde, das Stefan Sonderegger betreut, umfasst die Altbestände mit einem umfangreichen Urkunden-Bestand (und die Akten der Ortsbürger bis heute). Entsprechend unterschiedlich ist die Tätigkeit der beiden Archivare: Stefan Sonderegger hat es mit einem fast «toten» Archiv zu tun – es hat kaum Neueingänge zu verzeichnen. Dafür sind viele der Dokumente nicht nur lokal oder regional von Interesse, sondern betreffen den ganzen Bodenseeraum. Marcel Mayer hingegen muss mit der grossen Datenfülle umgehen, die die verschiedenen Verwaltungsstellen regelmässig freigeben. Hinzu kommen private Akten wie Tagebücher oder Briefe sowie Firmenarchive. «Die Frage ist nicht: Was wirft man weg?», erklärt Mayer, «sondern: Was behält man?» Das Stadtarchiv nimmt nur etwa 10 Prozent der anfallenden Akten und Nachlässe an – jene nämlich, die historisch relevant sind – aus Platzgründen und wegen der Übersichtlichkeit. Für denselben Informationsgehalt wird heute ohnehin viel mehr Papier gebraucht als in früheren Jahrhunderten, als Schreiben Handarbeit und Schreibmaterial kostbar war. Der Einzug des Computers in die Büros hat die Papierflut nochmals vergrössert – und stellt die Archivare vor zusätzliche Probleme: Wie sichert man digitale Daten für längere Zeit? Mit jedem Überspielen auf aktuelle Software können Informationen verfälscht werden. Und wie lange CDs halten, weiss man noch nicht. Das Stadtarchiv bewahrt daher vor allem Ausdrucke oder Mikrofichen auf. Ähnliche Probleme ergeben sich mit Tonträgern und Filmen: Überspielungen und Restaurierungen sind aufwendig, aber notwendig. Dies betrifft etwa die Gemeinderatsprotokolle, die es in schriftlicher Form seit 1972 nur noch als Beschlussprotokolle gibt. Von grossem Wert sind auch zum Beispiel die ältesten bewegten Bilder von St. Gallen, die vom Kinderfest 1927 stammen.

Angesichts der Datenfülle aus neuerer Zeit lagert einiges im Archiv, von dem die Archivare den Inhalt nur ungefähr kennen. Auch im Ortsbürger-Archiv gibt es noch manche Trouvaille: Die Akten, die Sonderegger etwa für die Edition im Chartularium Sangallense oder für die Rechtsquellen des Kantons St. Gallen bearbeitet, sind zu rund 40 Prozent bisher unbekannt oder nur in einer Kurzversion editiert. Solche Editionsarbeiten sind sehr aufwendig: Um eine einzige Urkunde fachgerecht zu erfassen, hat Sonderegger rund eine Woche. «Trotz technischer Hilfsmittel kann man die Arbeit nicht wesentlich beschleunigen», erklärt er. Denn der Computer scheitert schon bei verschiedenen Schreibweisen desselben Namens. Von Nutzen ist er dagegen für die Benutzenden, wenn sie auf ein umfassendes Register zurück greifen können.

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Quelle: St. Galler Tagblatt (CH), 4.11.2003

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