Lange Gänge, schummriges Licht, feuchte Wände und zusammengeschnürte Pakete vergilbter Papiere – dieses Bild verbinden Fernsehzuschauer mit einem Archiv. Nicht so das Reich des Hans Scheuern: Der ehrenamtliche Archivpfleger der Schlossstadt Heusenstamm arbeitet bei Tageslicht, das gleich durch zwei Seiten des Rathaus-Neubaus ins Zimmer 137 fließt. Gestern Abend wurde der Herr über zigtausend Akten für seinen Einsatz im Hinteren Schlösschen mit dem Heusenstammer Kulturpreis 2003 ausgezeichnet.
Genau betrachtet wacht er über vier Archive. Deren erste Aufzeichnungen stammen aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, wurden von den Schönborns jedoch zu ihrem Sitz nach Wiesentheid im Fränkischen mitgenommen, lagern heute teilweise im Staatsarchiv in Würzburg. Einige der „Dorfakten“, die bis in die 30er Jahre reichen, sind aber am Ort verblieben, informiert Scheuern. Die zweite Phase reicht bis 1976 und wurde von Rektor Dittrich aufgearbeitet. Nach dessen Tod wurde der Job 1999 vom damaligen Bürgermeister Josef Eckstein dem langjährigen Kommunalpolitiker Hans Scheuern angetragen. Fünf Jahre saß er für die FDP im Stadtparlament, acht im Magistrat, so dass er über weitreichende Kenntnisse der Stadtverwaltung verfügt. Zudem bringt er aus seinem Beruf Voraussetzungen für den Umgang mit Dokumenten mit. Scheuern stammt aus Diez an der Lahn und ging als junger Schriftsetzer-Lehrling auf Wanderschaft, wie es der Brauch vorsah. Er gelangte nach Nürnberg, Bad Kreuznach und Offenbach. In Stuttgart studierte er an der grafischen Schule und machte Druckingenieurswesen. 1958 heiratete er, zwei Töchter sowie ein Sohn gehörten bald zur Familie. 1961 begann er bei einer Frankfurter Druckerei als Betriebsassistent, nach kurzer Zeit übernahm er die Leitung. „Ich hab' mir das ganz locker vorgestellt“, blickt der Ausgezeichnete über eine Regalwand, „in einem Jahr oder zwei wollte ich durch sein“. Jetzt steckt er immer noch mitten drin im Bewerten von Akten. So umschreibt er seine Tätigkeit, mit der er Stapel im Din-A4-Format abarbeitet. Die Anschreiben an die Stadt und die von ihren Ämtern, Bewilligungen, Auskünfte, Satzungen und andere Korrespondenz wandert erst in die Registratur. Frühestens nach einem Jahrzehnt endet Aufhebungspflicht, dann können die Papiere in Scheuerns Abteilung wandern. Gerade sortiert er Briefe, deren Ein- oder Ausgang rund 25 Jahre zurückliegt. „Das ist schon ziemlich nah dran am Zeitgeschehen“, erklärt er aus der Sicht des Archivars. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Stapel mit Schriftstücken des Italienischen Familienvereins, viele sind in der Sprache seiner Mitglieder verfasst. Wie kann der Sammler da entscheiden, was für die Nachwelt interessant sein kann und womit der Reißwolf gefüttert wird? „Ich hatte in der Schule Latein“, winkt Scheuern ab. Meistens erkennt er schon in Adress- und Betreffzeilen, worum es sich handelt. Und falls er sich mal wirklich unschlüssig ist, wendet er sich an einen Kollegen in der Verwaltung, der der Fremdsprache mächtig ist. Die wichtigen Bögen legt er dann in einen Faszikel, der kleinsten Einheit innerhalb der Unterteilung. Belege findet er mit Hilfe eines eigenen Computer-Programms recht flott. Dem Rechner genügt das Aktenzeichen, eine Jahreszahl oder auch nur ein Stichwort, und er spuckt alle Nummern der Faszikel, Ordner, Fächer und Stahlschränke aus, in denen etwas zur eingetippten Angabe zu finden ist. Auch dieser Zeitungsartikel wird bald den Weg in sein Reich finden, denn eine Kollegin wird ihn einscannen, weil er Belange der Stadt berührt. Suchende können sich bei Hans Scheuern Kopien von Unterlagen anfertigen lassen. Aber nur, wenn die Herausgabe keinen Konflikt mit dem Datenschutzgesetz heraufbeschwört. Und wenn es nicht um Personen geht, die vor weniger als 100 Jahren das Licht der Welt erblickten.
Quelle: Offenbach-Post Online, 4.11.2003