Am 4. Juni 1864 gründete Wilhelm Gustav Dyckerhoff zusammen mit seinen Söhnen Gustav und Rudolf die „Portland-Cement-Fabrik Dyckerhoff & Söhne“ in Amöneburg. Mit 14 Arbeitern und einem Jahresversand von 2.228 Tonnen fing damals alles an. Heute sind in der Unternehmensgruppe Dyckerhoff weltweit 10.043 Mitarbeiter beschäftigt, die insgesamt 18,4 Millionen Tonnen Zement produzieren. Die alteingesessene Amöneburger Firma legt Wert auf Tradition. Sie hält die 140-jährige Geschichte des Unternehmens und der Familie Dyckerhoff in einem sorgfältig gepflegten Firmen- und Familienarchiv im alten Dyckerhoffschen Verwaltungsgebäude an der Biebricher Straße 69 in Wiesbaden fest.
Seit 1987 wird es von der Kunsthistorikerin Dr. Gabriele Fünfrock, geleitet. Sie promovierte über Jakob Friedrich Dyckerhoff, einen Architekten des Frühklassizismus im Großherzogtum Baden. Jakob Friedrich Dyckerhoff war Absolvent der Berliner Bauakademie und ist Zeitgenosse von Carl Friedrich Schinkel.
„Es ist überaus interessant , sich mit alten Fotos zur Firmengeschichte zu beschäftigen“, sagt sie und zeigt auf einzelne Exemplare aus der großen Sammlung von über 7.000 Fotos, die in den Archivräumen der Dyckerhoff AG fachgerecht aufbewahrt werden. In gemeinschaftlicher Arbeit werden sie so genau wie möglich stichwortartig beschrieben. 3.500 Fotos sind auf diese Art jetzt bereits digital verfügbar. Sie erzählen zum Beispiel von Arbeitern, die mit Hacken und Brechstangen im Steinbruch Kalkstein losschlagen, wie dieser dann mit Schubkarren und Pferdefuhrwerken zum Werk gefahren wird und dort in Ringöfen zu Zement verarbeitet werden soll. Weitere Fotos zeigen, wie der in Mühlen fein verarbeitete Zement in der alten Fassfabrik in Fässern verpackt zum Versand vorbereitet wird. Es ist in der deutschen Industriegeschichte wahrscheinlich einmalig, dass Dyckerhoff heute in der Lage ist, seine architektonische, seine produktionstechnische und insbesondere seine außergewöhnliche sozialhistorische Entwicklung zu dokumentieren.
„Ein Werksarchiv kann nur leben“, davon ist Dr. Fünfrock überzeugt, „wenn es von der Geschäftsleitung und der Belegschaft mitgetragen wird“. Begeistert erzählt sie von der „jüngsten Errungenschaft“, die das Archiv vor kurzem von einem Mitglied der Familie Dyckerhoff übernehmen konnte: Es handelt sich um das Tagebuch der Weltreise von Otto und Wilhelm Dyckerhoff, die sie 1898 zur Erforschung des internationalen Zementmarktes unternommen haben. Mit dem Postdampfer sind die Gebrüder Dyckerhoff bis nach Indien, Indonesien, China, und Japan gereist. Das Tagebuch gibt interessante Einblicke, wen sie unterwegs kennen lernten. Sie beschreiben darin die Beschaffenheit des Zements der Konkurrenz und an welche Baubehörden sie sich wandten, um zu versuchen, der meist britischen Konkurrenz die Aufträge abspenstig zu machen.
In den Archivräumen stehen Archivkartons mit Schriftgut, Korrespondenz, Firmenunterlagen und Geschäftsberichten. Hier werden auch lückenlos die für ihre Zeit fortschrittlichen sozialen Leistungen des Unternehmens für seine Mitarbeiter dokumentiert: 1864 Arbeiterkrankenkasse, 1870 Unterstützungskasse für Werksangehörige in Notlagen, 1889 Gründung einer Haushaltsschule für Mädchen, eines Knabenhort und eines Kindergarten, 1904 Stiftung zur Altersversorgung langjähriger Mitarbeiter. Im Archiv gibt es aber auch andere Zeugnisse der Firmengeschichte: Die Instrumente der Werkskapelle aus den 1930er Jahren und alte Tassen aus der Betriebskantine. Jüngst hat die Tochter des ehemaligen Kraftwerkleiters von Dyckerhoff dem Archiv die goldene Armbanduhr überlassen, die ihr Vater zu seinem 25-jährigen Meisterjubiläum von der Geschäftsleitung geschenkt bekam. „Wir haben sogar noch die Rechnung des Biebricher Uhrmachers dazu gefunden“, freut sich Dr. Fünfrock.
Auch größere Objekte unterstehen heute dem Archiv. So wird eine Zement- und Betonprüfmaschine genauso aufbewahrt wie eine Sacknäh- und eine Sackflickmaschine. Auch wiederverwertbare Leinen- und Jutesäcke, in denen früher Zement abgepackt wurde, kommen immer mal wieder zum Archivbestand hinzu.
Das Dyckerhoff'sche Werksarchiv ist zugleich auch Familienarchiv. Und so hängt hier ein alter Stammbaum über dem ehemaligen gründerzeitlichen Vorstandstisch, den die Archivleiterin für das Archiv gesichert hat. Die gesamte Korrespondenz zwischen dem Unternehmensgründer Wilhelm Gustav Dyckerhoff und seinen Söhnen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt hier wohl geordnet in speziellen Archivkartons und vieles mehr: „Die Familie hat immer gesammelt“, sagt Dr. Fünfrock, „was für das Unternehmen und die Familie bedeutend war“.
Das Archiv steht Interessenten prinzipiell offen, wobei Personalakten und besondere Geschäftsunterlagen des Unternehmens natürlich der Vertraulichkeit unterliegen. Hier entstanden Diplom- und Doktorarbeiten, zur Zeit arbeitet ein Mainzer Historiker im Archiv an einer neuen Familienchronik, die im Frühjahr nächsten Jahres erscheinen soll. Denn heute gibt es mehr als 150 Träger des Namens Dyckerhoff. Die derzeitige Geschäftsführung der Dyckerhoff AG fördert das Archiv nach Kräften und betreibt eine offene Informationspolitik.
Quelle: Wiesbadener Tagblatt, 9.10.2003
Düsseldorfer Archive wollen Staub aufwirbeln
Düsseldorf hat eine bewegte Vergangenheit. Zum Glück. Wie lebendig die sein kann, wird der „Tag der Archive“ zeigen. 19 Magazine öffnen am Wochenende ihre Türen und Regale, zeigen Kostbarkeiten aus Werkstätten und gekühlten Räumen, unbekannte Filmschätze und Fotos, Liebesbriefe und Sterbeurkunden. „Archive sind das Gedächtnis unserer Gesellschaft“, sagte Clemens von Looz-Corswarem (Stadtarchiv Düsseldorf) und berichtete stolz vom Erfolg der ersten Aktion vor zwei Jahren: Damals kamen 1.000 Besucher in 13 Archive. Diesmal werden weitaus mehr erwartet. Denn jetzt sind auch der Malkasten, E.On, Rheinbahn, Bilker Heimatfreunde, St. Lambertus, Universität und die Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth dabei.
Ein Prunkstück fürs Publikum
Archiv, das klingt nach staubigen Akten und unleserlichen Handschriften. Ein Eindruck, der sich schlagartig ändert, wenn die Archivare von ihren Schätzen schwärmen. So wie Ulrich Brzosa vom Pfarrarchiv St. Lambertus. Sein Prunkstück fürs Publikum ist der Zylinder von Joseph Wimmer. Wagemutig und im Sonntagsstaat war der Schlossermeister bis in die Turmspitze der Pfarrkirche gerannt, als 1815 der Blitz einschlug. Seine höchstprivate Löschaktion hat vermutlich die Kirche gerettet. Der Filzhut ist längst porös, aber das Blei, das bei dem Brand darauf getropft ist, ist immer noch gut zu erkennen.
Peter Müller vom Heimatarchiv Benrath brachte sein bestes Ausstellungsstück sogar zur Pressekonferenz ins Stadtarchiv mit: Einen schmucken Landwehrmann der 5. Preußischen Brigade aus dem Jahre 1813 , verkörpert durch Frank Moser, der im richtigen Leben Verlagskaufmann ist. Die Ausstellung „Benrather unter Napoleons Fahnen“ berichtet vom Alltagsleben der bergischen, französischen und preußischen Stoldaten.
Spannend wird es am Freitag auch im Hauptstaatsarchiv, wo Joachim Pieper die Besucher ins „Allerheiligste“ von Magazin und Restaurierungwerkstatt führt. Aber auch die dunklen Seiten unserer Stadtgeschichte werfen dort ihre Schatten: mit 73.000 Dokumenten wird hier die größte Sammlung von Opferakten aus der Nazi-Zeit aufbewahrt.
Im Heine-Institut erfüllt Marianne Tilch Besucherwünsche. Im Bildarchiv des Medienzentrums wird, ganz aktuell, schon die neue Arena dokumentiert. Und bei Rheinmetall zeigt Christian Leitzbach, wie sich die Automobiltechnik entwickelt hat.
Im Gedächtnis der Stadt kann am Wochenende jeder kramen, solange er keine Unordnung anrichtet. „Fragen Sie uns ruhig Löcher in den Bauch“, sagen die Archivare.
Quelle: NRZ-online, 8.10.2003
Tag der offenen Tür im neuen Stadtarchiv Varel
Zu einem Tag der offenen Tür lädt der Vareler Heimatverein am Sonnabend, 11. Oktober, von 14 bis 18 Uhr in das neue Stadtarchiv und das Heimatmuseum ein. Zum Programm gehört eine Dia-Schau, in der hunderte von historischen Schwarz-Weiß-Fotos aus Varel und Umgebung gezeigt werden. Auch an einem Bilderpreisrätsel können sich die Besucher beteiligen. In rund einjähriger Bauzeit wurden in dem neuen Gebäude am Neumarktplatz 3a auf 326 Quadratmetern Nutzfläche unter anderem der Eingangsbereich für das Heimatmuseum, zwei Archivräume und sanitäre Anlagen geschaffen.
Quelle: Nordwest-Zeitung, 8.10.2003
Archiv der Sparkassen-Versicherung Hessen-Thüringen
Das Unternehmensarchiv der öffentlich-rechtlichen Sparkassenversicherung Hessen-Thüringen ist eigentlich erst vor drei Jahren richtig entstanden. Damals beschloss der Vorstand, den Archivar Dr. Rainer Maaß, der heute im Staatsarchiv Darmstadt arbeitet, die Bestände der historischen Überlieferung des Unternehmens an den drei Standorten Darmstadt, Kassel und Wiesbaden sichten, bewerten und verzeichnen zu lassen. Heute lagern große Teile der registrierten und archivgerecht verpackten Bestände in einem Kellerraum am Direktionssitz Wiesbaden in der Bahnhofstraße 69. Eine Benutzungsgenehmigung für die Unterlagen kann auf Antrag gewährt werden.
Der Aufbau des Archivs orientiert sich an den Ursprüngen des traditionsreichen Regionalversicherers, den Hessen-Nassauischen Versicherungsanstalten und den drei hessischen Brandversicherungsanstalten, die aufgrund landesherrlicher Verordnungen im 18. beziehungsweise frühen 19. Jahrhundert entstanden waren. Bis 1994 verfügten die Brandversicherungsanstalten über so genannte Pflicht- oder Monopolrechte: Alle Gebäude mussten bei ihnen versichert werden, beziehungsweise konnten nur bei ihnen versichert werden.
Der Umfang der vorgefundenen Überlieferung war abhängig von den Kriegsverlusten. Von der Brandversicherungsanstalt Darmstadt konnte nur die Nachkriegsregistratur übernommen werden, da außer den Rechnungsbänden im wesentlichen kein weiteres Schriftgut die Kriegszerstörungen überdauert hat. Ähnlich verhielt es sich mit den Registraturen der Nassauischen Brandversicherungsanstalt, die nicht nur durch den Krieg, sondern auch in Folge des Umzuges aus dem Landeshaus in Wiesbaden stark dezimiert wurden.
Vollständig erhalten haben sich hingegen die Registraturen der ältesten hessischen Brandversicherungsanstalt in Kassel. Die Hauptregistratur reicht bis 1867 zurück und dokumentiert lückenlos das Alltagsgeschäft der Behörde und vermittelt zudem Einblicke in die Lebenswelten der dort Beschäftigten, beispielsweise während der Zeit des Nationalsozialismus. Besonders vielfältig ist das Kasseler Schriftgut auch hinsichtlich der Themenbereiche Brandverhütung und -bekämpfung. So ist als Bestandteil der Hauptregistratur eine komplette, rund 1000 Einheiten umfassende Aktenserie über die Unterstützungen erhalten, welche die Brandversicherungsanstalt den Ortsfeuerwehren Kurhessens zuteil werden ließ. Diese Akten sind für die Ortsgeschichtsschreibung interessant. Ins Archiv mit einbezogen wurden natürlich auch Fotografien von Festveranstaltungen oder Bränden, Versicherungsscheine, Hauszeitschriften oder Tonbandmitschnitte von Ansprachen.
Vieles von dem, was Dr. Maaß aus vergangenen Zeiten vorfand, ist nun im Unternehmensarchiv bereits komplett verzeichnet. Und wie sieht die Zukunft aus? Seit 1997 wird das eingehende Schriftgut bei der Sparkassenversicherung „optisch archiviert“. In der Dokumentenservicestelle – die so genannte elektronische Poststelle – arbeiten unter Leitung von Willi Jakowski in der Wiesbadener Zentrale zwanzig Mitarbeiter. Hier werden täglich rund 20.000 Blatt Papier – im Jahr also rund fünf Millionen! – „papierlos“ gemacht. Das heißt, die Bearbeitungseingänge werden eingescannt, erhalten eine Vertragsnummer und werden von hier aus als Datei an die zuständigen elektronischen Postkörbe im gesamten Unternehmen zur Weiterverarbeitung geschickt. „Auf die Datensicherheit muss ich mich dabei verlassen“, sagt Willi Jakowski. Das reale beschriebene Papier wird nach vier bis fünf Wochen Aufbewahrungszeit datenschutzgerecht vernichtet.
Wird das Archiv der Zukunft in einem Rechner Platz haben? Nun, auch hier bei der Sparkassenversicherung werden die Personalakten, der Schriftverkehr des gesamten Vorstands, Pfändungsunterlagen und auch größere Geschäftsvorgänge und besonders komplizierte Schadensfälle weiterhin als Papierakten angelegt und nicht optisch archiviert. Das traditionelle Archiv wird also auch hier nicht aussterben.
Info:
Rainer Maaß: Das Unternehmensarchiv der Sparkassen-Versicherung Hessen-Nassau-Thüringen am Direktionssitz Wiesbaden. In: Archivnachrichten aus Hessen Nr. 3/2003 oder unter der Rubrik Fachbeiträge im Internet unter www.stad.hessen.de
Quelle: Wiesbadener Tagblatt, 8.10.2003
EU-Projekt „Cultos“: Neue Programme für digitale Museen und Archive
Wie lässt sich Wissen zeitgemäß weitergeben, welche Rolle spielt der Computer für Museen, Archive und Bibliotheken? Das waren die Fragen, die beim EU-Projekt „Cultos“ nicht zuletzt von der landeseigenen Forschungsgesellschaft „Salzburg Research“ in den vergangenen beiden Jahren gestellt worden sind. Als Antwort präsentierte am Dienstag Salzburg Research am Ende eines zweitägigen Symposiums in Salzburg den Prototyp eines digitalen Archivs.
Querverbindungen gefragt
„Wenn es darum geht, etwa Don Quijote und seinen Kampf gegen die Windmühlen an junge Leute zu vermitteln, dann genügt es schon lange nicht mehr, ihnen das Buch von Cervantes in die Hand zu drücken. Man muss zum Beispiel Querverbindungen zu Popsongs oder zu Karikaturen herstellen, bei denen Don Quijote ein Atomkraftwerk attackiert“, sagte die Initiatorin von „Cultos„, Ziva Ben Porat aus Israel bei einem Pressegespräch.
Künstler und Programmierer an einem Tisch
Der Beitrag von Salzburg Research bestand laut dessen Leiter Siegfried Reich darin, Künstler und Computerprogrammierer an einen Tisch geholt zu haben. Herausgekommen ist dabei ein nicht verkäufliches Archivierungsprogramm, mit dem die Salzburger Kulturinitiativen, Museen und die Kunstuniversität Mozarteum von den Vorteilen des Computers bei der Wissensvermittlung überzeugt werden sollen. Andrea Mulrenin von Salzburg Research fügte hinzu, diese Institutionen bräuchten derartige digitale Strukturen und Netzwerke nötiger als ihre Budgets.
„Wir zeigen nur, was alles möglich ist“
Was genau die Anforderung an diese Programme ist, das müsse, so Reich, von den Institutionen selbst kommen. „Wir wären zudem überfordert, diese Programme zu installieren. Wir zeigen nur, was alles möglich ist, wenn Wissen digital und modern vernetzt wird“, so Reich, dessen Forschungsgesellschaft jetzt nach Strategien sucht, mit denen diese Idee vermarktet werden könnte.
Die Salzburg Research, die Forschungsgesellschaft des Landes Salzburg, beschäftigt 50 Mitarbeiter und hat ein Jahresbudget von drei Mio. Euro. Zwei Mio. davon stammen direkt von der EU, rund 750.000 Euro steuert das Land bei.
Quelle: Der Standard, 7.10.2003
Das Archivzentrum Hessens
Der große Archivzweckbau des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden in der Mosbacher Straße 55 bietet auf seinen insgesamt fast 19.000 Quadratmetern Fläche optimale Bedingungen. Ausgewählte Akten der hessischen Ministerien und sämtlicher Behörden mit zentraler Zuständigkeit für das Land Hessen werden hier übernommen und aufbewahrt. Es ist wichtigstes Dokumentationszentrum für die Geschichte Hessens und dessen historischer Überlieferung aus dem Herzoglich-Nasssauischen Zentralarchiv in Idstein (bis 1866) und Preußischen Staatsarchiv Wiesbaden (bis 1945).
Im eigentlichen Kernbereich des Hauptstaatsarchivs stehen hinter dicken Mauern und ebenso dicken Spezialtüren 9.500 Quadratmeter Magazinflächen auf sieben Stockwerken, zwei davon unterirdisch, zur Verfügung. Hier im Magazinbereich ist alles perfekt klimatisiert und durch Feuerlöschanlagen gesichert. Rund 55.000 laufende Meter Akten und Amtsbücher, die größte und inhaltsreichste Quellengruppe, sind hier in Regalen untergebracht – und jedes Jahr kommen rund 700 Meter dazu. In Spezialschränken haben die Urkunden, Karten, Siegel und Filme im Umfang von umgerechnet weiteren 7.000 laufenden Metern Platz. Was einmal hier gelandet ist, dafür legt Archivdirektor Dr. Diether Degreif die Hand ins Feuer, wird „auf Ewigkeit aufbewahrt“. Unter den 50 Menschen, die hier arbeiten, sind 15 ausgebildete Archivare.
Die Werkstätten
Vorgelagert vor dem eigentlichen Magazinkern befinden sich auf zwei Stockwerken die Büros und Werkstätten. Im Fotolabor werden für den Archivnutzer Fotografien von Archivalien und Reproduktionen für wissenschaftliche Veröffentlichungen und Ausstellungen hergestellt. In der Restaurierungswerkstatt sind das Können und die jahrzehntelange Erfahrung des Restaurators Garantie dafür, dass zerbrochene Siegel, wasser- und brandgeschädigte Pergamente und Papiere und zerrissene Karten oft fast originalgetreu wieder hergestellt werden können und in der ältesten Werkstatt des Archivs, der Buchbinderei, werden nicht nur alte Schätze sorgfältig behandelt, sondern viele der Neuzugänge werden hier oft erst einmal „überholt“, da sie durch den Behördengebrauch abgenutzt sind.
Sicherheitsverfilmung
Im Erdgeschoss des Hauptstaatsarchivs findet auch die Sicherungsverfilmung von Unterlagen aus allen drei hessischen Staatsarchiven statt. Da wertvolle Kunstschätze, ganze Bibliotheken und auch unersetzliche Archivalien immer wieder durch Natur- und Brandkatastrophen oder Kriegsereignisse vernichtet worden sind, gibt es in der Bundesrepublik Deutschland im Auftrag des Bundesinnenministeriums bereits seit 1961 ein Programm zur Sicherung wichtiger und einmaliger historischer Dokumente in den Archiven. Von hier aus werden die Original-Sicherungsfilme in einen ehemaligen Bergwerksstollen im Schwarzwald gebracht, wo alle Bundesländer ihre historische Überlieferung einlagern.
Wahre Schätze
Das Hauptstaatsarchiv beherbergt wahre Schätze. Die älteste Urkunde aus Pergament stammt von 910 und bezeugt eine königliche Schenkung zugunsten des Georgenstifts zu Limburg an der Lahn. Insgesamt besitzt das Hauptstaatsarchiv rund 65 000 Urkunden. Darunter befinden sich zahlreiche Königs- und Papsturkunden sowie die urkundliche Überlieferung der bedeutenden Zisterzienserklöster Eberbach (Rheingau) und Marienstatt (Westerwald), der Abtei Arnstein (Lahn) sowie des besagten Georgenstifts. Die Urkunden und Akten der nassauischen Grafen und Fürsten bilden den historischen Kern der Bestände und für die Zeit von 1806 bis 1866 besitzt das Archiv mit der Überlieferung des Herzogtums Nassau und seiner Behörden eine fast vollständige Dokumentation über einen kleinen Staat im deutschen Bund des 19. Jahrhunderts, die aus genau diesem Grund auch besonders wertvoll ist.
Unter den rund 30.000 historischen Karten und Plänen, darunter Grenz-, Forst-, Gewässer- und Eisenbahnkarten sowie zahlreiche Bauzeichnungen, befinden sich Schätze von großem Wert wie die vier Meter lange Darstellung des Rheinlaufs zwischen Walluf und Rüdesheim aus dem Jahr 1575, die im Zuge einer Auseinandersetzung zwischen den Kurfürsten von Mainz und Pfalz um den Besitz der Rheinauen entstanden ist.
Zeitgenössisches Schriftgut
Wichtigste und auch verantwortungsvollste Aufgabe des Archivars ist es heute, zeitgenössisches Schriftgut für die Übernahme ins Archiv auszuwählen, um künftigen Generationen die Geschichtsschreibung über unsere Epoche zu ermöglichen. Seit 1945 ist das Hauptstaatsarchiv für die laufenden Aktenabgaben der Ministerien und zentralen Landesbehörden zuständig. Hier landet bis zum heutigen Tag das archivwürdige Schriftgut der Ministerien sowie aller Behörden, Gerichte und staatlichen Einrichtungen mit Zuständigkeit für das Land Hessen.
Wie geht das vonstatten? Der Archivar geht zu einem „Aussonderungsbesuch“ in die Behörde und sichtet das Schriftgut, das aus dem normalen Geschäftsbetrieb ausscheidet. Natürlich ist der Prozentsatz der Akten, die zur dauernden Aufbewahrung übernommen werden kann, in den einzelnen Verwaltungszweigen sehr unterschiedlich. Während bei hessischen Ministerien im Durchschnitt bis zu 20/30 Prozent der Akten ausgewählt werden, gibt es kleinere Behörden, von denen die Staatsarchive nur ein Prozent der Akten oder weniger übernehmen. „Die Akten, die wir auswählen, müssen zeittypisch und historisch bedeutsam sein“, erklärt der promovierte Historiker Degreif. Unter den vielen zeittypischen Gerichtsakten beispielsweise über Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz wähle der Archivar dann einige repräsentative aus.
Ganz wichtig ist die möglichst schnelle und gründliche Erschließung der Bestände nach der Übernahme aus den Behörden, um aus einem Archiv kein unbenutzbares Informationsgrab zu machen. 1970 erschien erstmals eine „Übersicht über die Bestände des Hessischen Hauptstaatsarchivs“ vom Jahr 910 bis in die Gegenwart. Seit 1978 veröffentlicht das Hauptstaatsarchiv regelmäßig Findbücher von bedeutenderen Archivbeständen, die neu verzeichnet worden sind.
So öffentlich ging es beileibe in den Archiven nicht immer zu. Die Findbücher, in denen die Bestände inhaltlich erschlossen werden, durften in Preußen erst nach 1900 den Benutzern vorgelegt werden. Bis dahin blieben diese auf den Archivar, das heißt auf dessen mündliche Auskunftserteilung, angewiesen. Vor 1800 blieben Archive grundsätzlich vor der Neugier von Forschenden verschlossen!
1997 begann mit der Einführung von HADIS (Hessisches Archiv-, Dokumentations- und Informationssystem) für alle drei Staatsarchive und deren Nutzer ein neues Zeitalter. Recherchen können jetzt zunächst einmal für den Nutzer am eigenen PC zuhause beginnen, um sich auf den Archivbesuch vorzubereiten. Für die rund 4000 Nutzer, die im Jahresdurchschnitt das Archiv aufsuchen, stehen Lesesaal und verschiedene technische Benutzerräume mit Computerplätzen, Mikrofilmlesegeräten, Elektrokopierer und Readerprintern sowie eine Präsenzbibliothek mit 75 000 Bänden zur Verfügung. Dabei sind die Öffnungszeiten auch hier für Berufstätige nicht gerade freundlich: Nur jeden 2. und 4. Samstag im Monat ist der Lesesaal von 8 bis 12.30 Uhr geöffnet, während der Woche muss der Berufstätige sich sputen: Montag, Mittwoch und Freitag kann er ab 17.15 Uhr nichts mehr erforschen und dienstags und donnerstags schließen die Pforten schon um 16.15 Uhr.
Zu den Hauptnutzergruppen gehörten immer Familien- und Heimatforscher und wissenschaftliche Nutzer. In letzter Zeit finden aber auch immer mehr „normale Bürger“ den Weg ins Archiv, berichtet Dr. Degreif. Sie beschäftigen sich dort beispielsweise mit Umweltfragen, forschen nach Altlasten oder rollen Gerichtsakten von NS-Prozessen, Entnazifizierungsakten oder die Akten der Firma, die Zyklon B entwickelt hat, neu auf.
Kontakt:
Hessisches Hauptstaatsarchiv
Mosbacher Str. 55,
65187 Wiesbaden
Telefon: 0611/881-0
Telefax: 0611/881-145
E-Mail: Poststelle@hhstaw.hessen.de
Internet: http://www.hauptstaatsarchiv.hessen.de
Quelle: Wiesbadener Tagblatt, 7.10.2003
Konferenz: Conrad von Soest
Mit dem Marienretabel in der Dortmunder Marienkirche ist ein Hauptwerk des Conrad von Soest an seinem ursprünglichen Bestimmungsort erhalten. In diesem um 1420 geschaffenen Werk, das einen Höhepunkt spätmittelalterlicher Malerei darstellt, laufen zahlreiche Fäden von Stadtkultur, Künstlersoziologie und Kunst im spätmittelalterlichen Dortmund zusammen.
Dieses komplexe Interaktionsfeld wird auf der Tagung „Conrad von Soest: Stadtgesellschaft, Kunst und Künstler im spätmittelalterlichen Dortmund“ von Historikern und Kunsthistorikern im interdisziplinären Austausch abgeschritten werden. Reflektiert wird, in welchem Kontext der Maler seine Bilder für die städtische Gesellschaft erstellt hat. Stadtvorstellungen des Mittelalters sind ebenso Thema der Tagung wie die politische Kultur der Stadt um 1400 mit innerstädtischen Unruhen und dem Drängen der Zünfte um Beteiligung am Ratsregiment. Die Handelsaktivitäten der Dortmunder Fernkaufleute korrespondieren mit dem hohen Anspruch an die Malereien des Conrad von Soest, die hinter dem Niveau der spätmittelalterlichen Kunstzentren Paris oder Prag kaum zurückstehen.
Der künstlerische Austausch und der ambitionierte, weit überregionalen Standards verpflichtete Stil der Malereien sind von der Forschung noch längst nicht ausreichend gewürdigt worden. In einer Reihe von Vorträgen wird deshalb die Kunst des Conrad von Soest in den Kontext der zeitgenössischen Kunstproduktion gestellt. Die sozialgeschichtliche Einordnung des Künstlers ist bisher ebenso ein Desiderat der Forschung wie die Stellung der Gesellen im Malerhandwerk. Hier verspricht die Tagung ebenso Aufschluss wie bei der Bewertung der sogenannten Signaturen auf dem Marienretabel. Auch wird die Verwobenheit von Stadtgesellschaft, Kunst und Künstler im spätmittelalterlichen Dortmund in besonderer Weise sichtbar.
Info:
3. Dortmunder Kolloquium zur Kunst, Kultur und Geschichte in der spätmittelalterlichen Stadt
„Conrad von Soest: Stadtgesellschaft, Kunst und Künstler im spätmittelalterlichen Dortmund“
Conrad-von-Soest-Gesellschaft Dortmund; Stadtarchiv Dortmund; Universität Dortmund, Lehrstuhl für Kunstgeschichte
29.01.2004-31.01.2004, Dortmund
Programm:
Eröffnungsvortrag:
Prof. Dr. Dres. hc Otto Gerhard Oexle, Göttingen
Die Stadtkultur des Mittelalters als Erinnerungskultur
Prof. Dr. Thomas Schilp, Dortmund/Duisburg
Konflikt und Konsens: Soziale und politische Stadtkultur des Dortmunder
Mittelalters
Dr. Regine Rößner, Oldenburg
Dortmunder Hansekaufleute in England und Flandern – Fernhandel,
Stiftungen und Korporationen
Dr. Monika Fehse, Duisburg
Der Städter Conrad von Soest – eine sozialgeschichtliche Einordnung
Dr. Ulrike Heinrichs-Schreiber, Bochum
Tafelmalerei in Paris um 1400 – Anmerkungen zu einem problematischen
Überlieferungsstand
Dr. Iris Grötecke, Bochum
Bertram aus Minden – Maler für Hamburg?
Prof. Dr. Martin Büchsel, Frankfurt am Main
Conrad von Soest – Der „weiche Stil“ – kritische Anmerkungen zu einem
Stilbegriff.
Prof. Dr. Robert Suckale, Berlin
Zur Geschichte der Malerei Westdeutschlands zwischen 1350 und 1400
Dr. Wilfried Ehbrecht, Münster
Jerusalem: Vorbild und Ziel mittelalterlicher Stadtgesellschaft
Prof. Dr. Wilfried Reininghaus, Münster
Wanderungen von Malern und anderen Handwerkern im Mittelalter
Prof. Dr. Barbara Welzel, Dortmund
Conrad von Soest in Dortmund: Höfische Bilder für die Stadtgesellschaft
Dr. Klaus Lange, Ennepetal
Signaturen Conrads von Soest. Der Name des Malers und die Wahrheit des
Bildes
Dr. Nils Büttner, Dortmund
„Johannes arte secundus“? Oder: Wer signierte den Genter Altar?
Kontakt:
Thomas Schilp
Stadtarchiv Dortmund
Märkische Straße 14
44122 Dortmund
Quelle: H-Soz-u-Kult, 6.10.2003
Regesten ältester Leipziger Ratsbücher
Dr. Henning Steinführer stellt die ältesten erhaltenen Leipziger Ratsbücher von 1466 bis 1500, am 9. Oktober im Stadtarchiv Leipzig vor. Der Wissenschaftler hat diese Edition im Rahmen eines von der Volkswagen-Stiftung unterstützten Projektes erarbeitet (Bewilligung: 23.04.1998 Laufzeit: 3 Jahre).
Zum ersten Male werden damit diese historischen Dokumente einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Drucklegung der Ratsbücher erfolgte im Leipziger Universitätsverlag innerhalb der Schriftenreihe des Stadtarchivs Leipzig.
Die frühesten Ratsbücher der Stadt Leipzig dokumentieren die Ratsgeschäfte und privatrechtlichen Vorgänge aus der Gründungszeit der Leipziger Messe. Sie werden in drei Jahren durch Erarbeitung der Urkundentexte sowie deren Erschließung nach Stichwörtern, Orten und Personen für die Forschung erschlossen.
Kontakt:
Stadtarchiv Leipzig
Torgauer Straße 74
D-04318 Leipzig
Tel: +49 (341) 24 290
Fax: +49 (341) 242 9121
stadtarchiv@leipzig.de
Literaturhinweise:
- Henning Steinführer: Die Edition der ältesten erhaltenen Leipziger Ratsbücher (1466-1500). Ein aktuelles Forschungsprojekt zur sächsischen Städtegeschichte im Spätmittelalter, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 69 (1998), S. 245-250
- Henning Steinführer: „… und haben gebeten in des rats buch schreiben zu lassen.“ Die Edition der ältesten erhaltenen Leipziger Ratsbücher (1466-1500). Ein Forschungsprojekt im Stadtarchiv Leipzig, in: Leipziger Kalender (1999), S. 87-96
- Elke Schlenkrich: „Hirvmb so hat sich der Rathe mit der Vniversitet betagt“ – Leipziger Ratsbücher des 15. und 16. Jahrhunderts als Spiegelbilder der Interaktion von Stadt und Universität, in: Karl CZOK; Volker TITEL (Hgg.), Leipzig und Sachsen. Beiträge zur Stadt- und Landesgeschichte vom 15.-20. Jahrhundert. Siegfried Hoyer zum 70. Geburtstag, Beucha 2000, S. 9-16
Quelle: Leipzig News, 6.10.2003
Geschichte der Auslagerung der Berliner Staatsbibliothek
Jeder Benutzer der Berliner Staatsbibliothek kennt die älteren Katalogsignaturen häufig angefügte Zusatzinformation: „Kriegsverlust möglich“. Er weiß, dass die Bestellung in solchen Fällen nicht grundsätzlich aussichtslos ist. Gelegentlich wird erst durch die Bestellung selbst geklärt, ob das Buch nach 1945 in die Bibliothek zurückgekehrt ist.
Aus der „Preußischen Staatsbibliothek“ wurden in den Kriegsjahren 1941 bis 1945 mehr als drei Millionen Druck- und Handschriften ausgelagert. Es war die größte Umschichtungs- und Sicherungsaktion, die es innerhalb der europäischen Bibliotheksgeschichte je gegeben hat. Von den ausgelagerten Druck- und Handschriften kehrten ungefähr 850.000 nach Kriegsende nicht nach Berlin zurück. Werner Schochow hat jetzt die Geschichte dieser Verlagerungsaktion geschrieben, in Anknüpfung an seine 1989 erschienene, mit einem reichhaltigen Quellenteil versehene Überblicksdarstellung zur Geschichte der Bibliothek zwischen 1918 und 1945.
Die Bestände des Ostberliner Hauses Unter den Linden und des Westberliner Hauses an der Potsdamer Straße sind nach dem Fall der Mauer zusammengeführt worden. Die Perspektive der Sichtung der Bestände nach dem Ende der Nachkriegszeit prägt Schochows minutiöse Rekonstruktion der Verlagerungen. Er will möglichst genau darlegen, was wo verblieben, verschollen oder definitiv vernichtet ist. So beschränkt er sich nicht darauf, die drei großen Auslagerungswellen (Frühjahr/Herbst 1941, Sommer 1942 bis Sommer 1943, Sommer 1943 bis 1945) aus der Sicht der Berliner Bibliothekare und ihrer Logistik zu rekonstruieren. Er folgt den Büchern in ihre verstreuten Depots im Westen, Süden und Osten des damaligen Reichgebietes. Nach Hessen und Württemberg, Böhmen und Schlesien, bis hinauf nach Pommern. Systematisch führt er Ortsnamen und Signaturengruppen zusammen.
Nicht geringe Dunkelziffer
Zwei Motive beherrschen die Darstellung der Zeit nach 1945: Rückführung und Recherche. Über ein Jahrzehnt dauerte es, bis von den mittleren Sechziger Jahren etwa die Bestände aus Marburg mit seinen vier Außenstellen und aus dem Tübinger Depot langsam nach Westberlin geführt wurden, wo der Scharoun-Bau im Dezember 1978 geöffnet wurde. Äußerst schleppend verlief die Recherche nach dem Verbleib der nach Osten ausgelagerten Bücher. Die schlesischen und pommerschen Depots lagen nun in Polen, viele Bücher waren aus ost- und mitteldeutschen Depots in die Sowjetunion gelangt.
Schochow zeigt, wie wenig erfolgreich auch die Vorstöße der Ostberliner Staatsbibliothek bei ihren polnischen Kollegen jahrzehntelang waren. Die Rückführungsaktion aus Polen erfolgte 1963 „nicht als Rückerstattung an den rechtmäßigen Eigentümer, sondern als Geschenk an den sozialistischen Nachbarn“. Das Grundmotiv der restriktiven Informationspolitik sowohl in Polen wie in der Sowjetunion war der Grundsatz, die Berliner Bestände als Kompensation für eigene Kriegsverluste aufzufassen.
„Im ganzen beherbergt Polen heute vom alten Bestand der Preußischen Staatsbibliothek – bei einer nicht geringen Dunkelziffer, die nur Detailuntersuchungen aufhellen könnten – weit über 100.000 Bände sowohl geistes- wie naturwissenschaftlichen Inhalts. Sie befinden sich in acht Bibliotheken und Instituten des Landes. Bei der Beurteilung dieser Tatsache darf man den beträchtlichen personellen und materiellen Aufwand nicht übersehen, den Polen zur Sicherung und Pflege der kriegsbedingten Auslagerungen im Verlauf von fünf Jahrzehnten geleistet hat.“
Schochows Studie „Die Preußische Staatsbibliothek und Polen seit dem Zweiten Weltkrieg“ (1997) ist in dieses Buch eingegangen.Nicht nur durch ihre Genauigkeit beeindrucken seine Recherchen, sondern auch durch die Behutsamkeit, mit der sie das Thema der Rückführung Berliner Bestände aus polnischen oder russischen Bibliotheken behandeln. Dies Buch demonstriert das Eigenrecht der wissenschaftlichen Recherche auch dort, wo das Problem der Restitution politisch nach wie vor ungelöst ist.
Info:
WERNER SCHOCHOW: Bücherschicksale. Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung. Zerstörung. Entfremdung. Rückführung. Dargestellt aus den Quellen. Mit einem Geleitwort von Werner Knopp. Walter de Gruyter, Berlin und New York 2003. 328 Seiten, 48, 95 Euro.
Quelle: SZ, 4.10.2003
Stöbern im Stadtarchiv Wiesbaden
Das öffentliche Archiv der Landeshauptstadt Wiesbaden befindet sich hinter dem alten Dotzheimer Güterbahnhof. Dort wurden 1989 die Räume einer ehemaligen Fabrik bezogen, weil es im vorherigen Domizil in der Hengstenberg-Villa in der Humboldtstraße zu klein geworden war. Hier stehen dem Stadtarchiv insgesamt 1.703 Quadratmeter zur Verfügung, wobei bisher nur ein Teil dieser Fläche für die dauerhafte Aufbewahrung von Archivgut optimale klimatisierte Bedingungen vorweisen kann.
Erst „entgräten“
Im Flur vor den Arbeitsräumen der Archivdirektorin Dr. Brigitte Streich und ihrer acht Mitarbeiter stehen Stapel von Akten und Papieren aller Art. Sie sind neu angekommen. Bevor sie erschlossen und registriert werden können, müssen sie zunächst „entgrätet“ und „umgebettet“ werden. Alles Metall wird entfernt, denn dieses rostet und greift das Papier an. Der Inhalt wird gesichtet und registriert, dann das Schriftgut in spezielle Kartons gelegt, wo es lange Zeiten überdauern kann. Die fertig erschlossenen Akten werden in Rollregalen in großen klimatisierten Archivräumen untergebracht. Dort sind bereits zweieinhalb Kilometer aneinander gereiht!
Da das Archiv im Laufe seiner Geschichte mehrmals umgezogen ist und über lange Zeiträume hinweg eher stiefmütterlich behandelt wurde, gibt es größere Lücken in den Beständen, ganz zu Schweigen von den Verlusten durch die bewussten Vernichtungsaktionen wie denen des damaligen NS-Bürgermeisters Piékarski, der vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen in Wiesbaden im März 1945 fast sämtliches im „Dritten Reich“ entstandenes Schriftgut der Hauptregistratur vernichten und die bei seiner Flucht mitgenommenen Personal- und Geheimakten in Bad Elster verbrennen ließ. So gehört die städtische Zwangsarbeiterkartei mit fast 3.000 Namen und Bildern heute zum seltenen Archivgut dieser Zeit im Stadtarchiv.
In der Gegenwart regeln das Hessische Archivgesetz und eine „Satzung über die Archivierung des Archivgutes der Landeshauptstadt Wiesbaden“ ganz genau, auf welches Schriftgut das Archiv Anspruch hat. Mit der Einführung dieser Archivsatzung, die am 12. Dezember 1991 von der Stadtverordnetenversammlung beschlossen wurde, sind die Dezernate, Ämter und Betriebe der Stadt verpflichtet, „alles Schriftgut und alle sonstigen Informationsträger, die zur Erfüllung ihrer laufenden Aufgaben nicht mehr erforderlich sind, unverzüglich auszusondern und dem Archiv zur Übernahme anzubieten“. Neben den Protokollen der Stadtverordnetenversammlung und ihrer Ausschüsse und den Magistratsprotokollen wird Wiesbadens Geschichte im Stadtarchiv in drei Abschnitten dokumentiert: Wiesbaden unter Nassau (bis 1866), Wiesbaden in preußischer Zeit (1866 bis 1945/46), Landeshauptstadt Wiesbaden (seit 1945/46). In gesonderten Beständen erfasst sind die eingemeindeten Orte und Ortsverwaltungen und so genannte „Privata“, dazu gehören Nachlässe und Sammlungen, die dem Stadtarchiv übergeben wurden, Schriftgut von Vereinen und Verbänden, von Parteien und Wirtschaftsunternehmen.
Multimedia-Archiv
Zu finden sind hier auch Sammlungen: Plakate, Postkarten und Stiche zum Beispiel und weit über 1.000 Zeitungsbände. Die große Zeitungsauschnittsammlung ist nach Sachgebieten und Personen erschlossen. Beeindruckend ist auch die umfassende und in Teilen digitalisierte Fotosammlung. Das „Digitale Multimediaarchiv“ wird von Dr. Thomas Weichel betreut. Alle Fotos sollen eingescannt werden und können dann digital recherchiert und zur Verfügung gestellt werden. Der große Vorteil: wertvolle und seltene Originale müssen nicht mehr aus- und eingepackt und damit in Mitleidenschaft gezogen werden. Das schützt sie vor weiterem Verfall. Laufend finden hier im Stadtarchiv Anstrengungen statt, dieses Fotoarchiv zu ergänzen. So können Besitzer historischer oder auch interessanter zeitnäherer Aufnahmen diese dem Archiv zum Einscannen zur Verfügung stellen und erhalten ihre Originale danach auf Wunsch zurück.
Hier wird aber nicht nur Vergangenes für die Zukunft bewahrt. Auch die Gegenwart wird möglichst genau dokumentiert und so wurde im Rahmen des Digitalen Multimediaarchivs damit begonnen, eine aktuelle Stadtdokumentation zu erstellen. Dabei dokumentierten die bis vor kurzem im Stadtarchiv beschäftigte Fotografin Saskia Steltner und der Historiker Dr. Thomas Weichel die Stadt und ihre Straßenzüge in aktuellen Fotografien, und auch, wenn dieses Projekt jetzt erst einmal auf Eis liegt, werden die Menschen, die in 100 oder 500 Jahren einmal wissen wollen, wie Wiesbaden anno 2000 ausgesehen hat, sich hoffentlich ein annähernd genaues Bild davon machen können.
Neben den „Pflichtabgaben“ der Dezernate und Ämter legt die Archivdirektorin besonderen Wert darauf, dass sie auch ganz einfache und scheinbar ganz profane Dinge sichern möchte. „Wir interessieren uns für fast alles“, betont sie deshalb. Es gehe oft gar nicht darum, „ob auf irgendwelchem Papier Hochwissenschaftliches steht“. Das Zeitkolorit sei entscheidend. Und genau hierzu können Veranstaltungszettel und Zeitschriften von Vereinen oder Schulen, Gemeindebriefe der Kirchen, „graue Literatur“ also, hochinteressant sein. Deshalb bittet das Stadtarchiv Vereine, Institutionen und Sachbearbeiter darum, die Mitarbeiter des Archivs zu unterrichten, ehe Unterlagen in Papiercontainer, feuchte Keller oder staubige Dachböden privat entsorgt werden. Die Mitarbeiter des Archivs holen die Unterlagen im Bedarfsfall sogar selbst ab!
Leider komme es noch viel zu häufig zu unkontrollierten Akten- und Datenvernichtungen, bedauert die Archivfachfrau. „Deshalb bringen wir uns immer wieder in Erinnerung.“ Und sie drückt ihr Missfallen über die Entscheidungen so mancher Personen aus, die sich oft in dieser Beziehung zu viel Urteilsvermögen anmaßten.
Wenig Schulklassen
Heute kommen im Tagesdurchschnitt drei bis vier Besucher ins Stadtarchiv, darunter sind Denkmalpfleger, Heimatforscher, Zeitungs- und Fernsehjournalisten genauso wie der Bürger, der die Geschichte seiner Familie erforschen oder nachempfinden will, wie der Stadtteil, in dem er heute lebt, vor 100 Jahren ausgesehen hat. „Schulklassen kommen“, bedauert Dr. Streich, „leider sehr selten“. Das liege wohl auch daran, dass das Hessische Hauptstaatsarchiv einen Archivpädagogen zur Betreuung von Schulklassen anbieten kann. Dr. Streich bemüht sich, die Schwellenangst gegen einen Archivbesuch abzubauen. „Archive sind sehr demokratische Institutionen, jeder, der ein berechtigtes Interesse hat, kann hier alles einsehen und auch unsere Bibliothek nutzen.“ Dort stehen immerhin rund 15.000 Bücher in den Regalen.
Es geht unbürokratisch zu. Der Interessent kann zunächst anrufen und nachfragen, ob zu seinem Gebiet Schriftgut vorhanden ist. Der Benutzerantrag ist schnell ausgefüllt und die detaillierte Suche in den übersichtlichen „Findbüchern“, die im Benutzerzimmer stehen und über den gesamten registrierten Bestand Auskunft geben, kann beginnen. Die Unterlagen werden dem Benutzer dann normalerweise in so kurzer Zeit vorgelegt, dass er darauf warten kann. Die Stichworte im Benutzerbuch geben Auskunft darüber, in welche unterschiedlichen Themen die letzten Gäste sich hier im ruhigen Lesezimmer vertieft haben: Kloppenheim, Sintiverfolgung, Kaspar Kögler, Eingemeindung, Hessischer Rundfunk, Rudolf Dietz, Genealogie, Flurpläne um 1900, Frauen in der Stadtgeschichte, Ortsgeschichte Frauenstein, Buchbinder in Wiesbaden, Marktplatz in Biebrich, Georg Buch, Jugendstil. Mit Sicherheit gab es zu allen diesen Themen hier im Stadtarchiv Interessantes zu entdecken.
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Im Rad 20
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E-Mail: stadtarchiv@wiesbaden.de
Quelle: Wiesbadener Tagblatt, 4.9.2003