Die Wahrheit jenseits der NS-Akten

Wer nur den NS-Dokumenten vertraut, verkennt den Widerstand der Deutschen, so die These von Nathan Stoltzfus in seinen Anmerkungen zum Historikerstreit um die „Rosenstraße“ in der ZEIT.

Mit seiner grundsätzlichen Kritik an Margarethe von Trottas Film Rosenstraße hat der Historiker Wolfgang Benz die Expertenschaft für ein Thema behauptet, das er freilich in seinem Standardwerk über Die Juden in Deutschland (1989) nur mit wenigen Sätzen erwähnt. Die Beiläufigkeit dort sollte zu verstehen geben, dass dem Protest der deutschen Frauen, die 1943 für die Freilassung ihrer jüdischen Männer vor dem Gefängnis in der Berliner Rosenstraße demonstrierten, nicht mehr Bedeutung zukomme als irgendeinem anderen Ereignis, das seiner Konzeption von Macht und Verantwortung im NS-Staat widersprechen könnte. Der Protest der Frauen, so wandte Benz gegen den Film ein, habe nichts für die Rettung der Männer bewirkt; vielmehr sei deren Freilassung genauso geschehen, wie es das Regime gewollt hatte. Er folgte damit der verbreiteten Vorstellung, Deutsche hätten angesichts der Nazimacht wirksamen Widerstand gar nicht leisten können.

Die Geschichte der Rosenstraße wurde von Benz mit einem spürbaren Gähnen in dem Kapitel Überleben im Untergrund 1943-1945 abgelegt, womit zugleich der irreführende Eindruck entstand, Juden in Mischehen hätten nur im Untergrund überleben können. Tatsächlich konnte ich in einem Aufsatz 1998 nachweisen, dass 98 Prozent der deutschen Juden, die ohne Abtauchen in den Untergrund überleben konnten, mit Nichtjuden verheiratet waren. Benz zitierte auch keinen der bekannten Historiker, darunter Raul Hilberg, Richard J. Evans und Ian Kershaw, die den Schluss gezogen hatten, dass erst die protestierenden Frauen die Gestapo gezwungen hatten, die Juden freizulassen, statt sie zu deportieren.

Mit der Meinung von Benz wurde ich das erste Mal konfrontiert, als ich Mitte der achtziger Jahre als Fulbright-Stipendiat nach Berlin kam, um die Proteste der Rosenstraße zu erforschen. Der Historiker Wolfgang Wippermann erklärte mir, dass alles, was darüber herauszufinden war, herausgefunden worden sei. Im Übrigen seien die letzten Überlebenden gerade verstorben. Als ich meine Untersuchung 1995 in Geschichte und Gesellschaft veröffentlichte, antwortete Christof Dipper (Sommer 1996) mit dem gleichen Befund; wie er sagte, habe Kurt Ball-Kaduri die Rosenstraße „seit langem“ (nämlich 1973) erschöpfend erforscht. 1997 erschien Benz’ Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Die Rosenstraße blieb ohne Erwähnung, obwohl ein Überblicksaufsatz zum Thema Frauen zwischen Abweichung und Widerstand Paare in Mischehe erwähnt und Kategorien angibt, für die der Rosenstraßen-Vorgang eine ausgezeichnete Anschauung geboten hätte.

In seiner Kritik an Trottas Film stützte Benz seine bekannte Auffassung mit Hinweis auf neue Dokumente, die der Historiker Wolf Gruner gefunden hatte. Einmal abgesehen davon, dass diese Dokumente nicht viel Neues besagten, ist die Bereitschaft überhaupt erstaunlich, sich auf einige wenige Dokumente der Nazibehörden zu verlassen – um den Preis der Verleugnung und Ausklammerung einer Fülle anderer, ebenso wichtiger oder wichtigerer Dokumente. Woher wissen wir zum Beispiel, dass die Protestierenden unwissend und wirkungslos waren? Weil es uns ein Bürokrat des Regimes so mitteilte?

In der Ausblendung solcher Fragen zeigt sich die Fortdauer einer Auffassung der frühen Nachkriegszeit, nach der die Nazimacht absolut und ein Aufbegehren kleiner Leute unvorstellbar waren. Bezeichnend ist Benz’ Begründung für die Sinnlosigkeit der Einflußnahme auf Goebbels: „denn Goebbels hatte mit der Rosenstraße nichts zu tun und hätte dort auch nichts bewirken können“. Dass ein oder zwei Dokumente die Frage beantworten können, was in der Rosenstraße geschah, und der Reichsminister Goebbels, Propagandaminister und Gauleiter von Groß-Berlin, in der Angelegenheit nichts zu sagen hatte, mag logisch erscheinen, wenn man ausgewählte Dokumente und die erklärten Zuständigkeiten für bare Münze nimmt. Goebbels hätte aber wohl kaum zuvor seine Stellenbeschreibung zu Rate gezogen, wenn er die Befehlsgewalt in der Rosenstraße an sich gerissen hätte. Er hatte soeben Hitlers Ansicht in der Frage des totalen Kriegs geändert und sich dabei gegen die Einwände des „Dreierausschusses“ aus Wehrmachtschef Wilhelm Keitel, Hitlers Sekretär Martin Bormann und dem Chef der Reichskanzlei Hans Lammers durchgesetzt. Jedenfalls „stellte sich Hitler ausnahmslos auf die Seite seiner Gauleiter (oder, besser, des stärksten Gauleiters)“, wie Kershaw schreibt.

Verschiedene Einträge in Goebbels Tagebuch sind die wichtigsten Dokumente, die Historikern zur Verfügung stehen, um mithilfe weiterer Materialien die Rosenstraße zu interpretieren und das Gewicht des Protestes im Gang der Ereignisse herauszuarbeiten. Nehmen wir einmal an, Benz habe Recht. Selbst wenn wir ein Tonband finden würden, auf dem Hitler nuschelt, er habe nicht vor, die Juden der Rosenstraße zu deportieren, müssten wir immer noch erklären, warum. Wo ist der Kontext, der uns das Ergebnis der Proteste verständlich macht?

Meiner Ansicht nach finden wir diesen Kontext in dem zehnjährigen Konflikt zwischen dem Regime und den Paaren in Mischehe, der bis zu jenem Rosenstraßen-Protest führte, auf den hin das Regime nachgab und beschloss, die Deportation von Juden aus Mischehen „vorläufig“ zurückzustellen. Mit Nichtjuden verheiratete Juden führten zur Kollision zweier Grundprinzipien der Nazis: dem Prinzip der Rassereinheit und dem Prinzip, dass Ruhe im Land herrsche. Schon zu Beginn der ersten Deportationen hatten Naziführer eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die Juden in Mischehen „vorläufig“ zurückzustellen. Durch die Proteste in der Rosenstraße wurden sie gezwungen, sich auf diese Politik zurückzuziehen, trotz Goebbels Ziel, Berlin bis Ende März judenrein zu machen. Die Anordnung eines „vorläufigen“ Aufschubs zeigt jedoch, dass das Regime vorhatte, dies eines Tages doch zu tun, und 25 Juden in kinderlosen Mischehen sind aus der Rosenstraße nach Auschwitz deportiert worden.

Die entscheidende Frage ist, warum die Nazis ihre Ideologie verrieten, um für die Juden in Mischehe zunächst eine Ausnahme zu machen; warum die in der Nazilogik besonders abscheulichen Juden in Mischehen bei Beendigung der Deportationen aus Deutschland noch immer am Leben waren und warum die überwältigende Mehrheit der deutschen Juden, die Hitler überlebten, mit Nichtjuden verheiratet waren. Die Untersuchung dieser zentralen Fragen führt zu Kontexten, die verständlich werden lassen, warum das Regime die Juden in Mischehe als Reaktion auf einen andauernden Massenprotest durch ihre nichtjüdischen Partner freiließ.

Die Geschichte der Rosenstraße ist ebenso komplex wie die des 20. Juli. Dessen Geschichte würden die Fachleute wohl kaum auf der Grundlage von ein oder zwei Nazidokumenten erzählen wollen, einmal abgesehen davon, dass diese Dokumente für ihre Täuschungen berüchtigt sind. Hitler mochte bürokratische Dokumente genauso wenig wie die Bürokraten selbst. Er zog es vor, mündlich Befehle zu erteilen, seinem Instinkt zu folgen und entschieden vorzugehen, wann immer der Augenblick das zuließ. Er nannte es dann eine vollendete Tatsache, die Untergebenen anzulasten war, wenn Protest laut wurde. Auch Deportationsanweisungen pflegten der Täuschung zu dienen. So wurde etwa Juden befohlen, Nähmaschinen in die „Arbeitslager“ im Osten mitzunehmen. Wenn es keinen Protest hervorrief, wurden die Anweisungen ignoriert; zum Beispiel wenn die örtliche Gestapo da oder dort in die allgemeine Deportation auch den einzigen in Mischehe lebenden Juden der Stadt einschloss. Obgleich die ersten Anweisungen für den Transport nach Auschwitz vom 20. Februar 1943 datieren, hatte Eichmanns Amt schon seit Mitte Juli 1942 Tausende deutscher Juden dorthin bringen lassen. Darunter waren auch sechs oder sieben Transporte aus Berlin.

Die Berliner Gestapo war zudem, verglichen mit anderen Städten, ein Spezialfall. Gerade in Berlin, dem Sitz der Macht, gab es viele Gründe für Diskrepanzen zwischen den Anordnungen auf dem Papier und der Praxis. Dazu gehörte die ständige Einmischung des Reichssicherheitshauptamts in die Angelegenheiten der Gestapo. In einem Aufsatz (für Geschichte und Gesellschaft, Herbst 2000), den Wolfgang Benz verschweigt, obwohl ich darin lange vor seiner Filmkritik auf die Erwähnung neuer Dokumente durch ihn und Gruner reagierte, habe ich gesagt, dass die in Mischehe lebenden Juden selbst dann, wenn die Gestapo sie irrtümlich verhaftet hätte, vom Reichssicherheitshauptamt – in diesem Stadium seiner Radikalisierung und zu einer Zeit, wo der Säuberungsprozess auch den allerletzten Juden im alten Reichsgebiet erfasste – aus der Rosenstraße in den Osten geschickt worden wären, falls es keinen Protest gegeben hätte. „Die Willkür der Gestapo und ihre Stellung jenseits des Gesetzes hatten zu dieser Zeit ein solches Ausmaß erreicht, dass die Annahme naiv ist, irgendeine gesetzliche Regelung hätte sie von der Verfolgung ihrer ‚historischen Mission‘ abhalten können. … Die Tatsache, dass in ‚Mischehen‘ lebende Juden … in den eroberten Ostgebieten im krassen Gegensatz zum Reichsgebiet aufgegriffen und ermordet wurden, zeigt deutlich, dass ihre Verschonung in Deutschland das Ergebnis der allgemeinen Stimmungslage der Bevölkerung und komplizierter politischer Überlegungen war.“

Die Historikerin Beate Meyer hat einmal, ähnlich wie Benz argumentierend, geschrieben, dass die Frauen der Rosenstraße eine offene Tür einrannten – eine Feststellung, die es offenbar mehr darauf anlegt, Geringschätzung auszudrücken als Verständnis. Es überrascht nicht, dass Ereignisse von Historikern unterschiedlich interpretiert werden. Es ist sogar wertvoll, solange jede Interpretation dem Versuch entspringt, Geschichte zu verstehen und sich in die Akteure zu versetzen. Die Interpretation von Benz und anderen ist jedoch ein Affront für die Frauen, die in der Rosenstraße protestierten; zumindest für die, mit denen ich sprechen konnte. Wenn es Benz wirklich darum gegangen wäre, sie zu verstehen, hätte er, lange bevor ich es tat, Überlebende befragen können – NS-Täter ebenso wie Opfer, von denen ich Mitte der achtziger Jahre ein Dutzend fand, die später die Hauptquelle für Bücher und Dokumentationen über die Rosenstraße bildeten.

Nehmen wir einmal an, die Protestierenden rannten eine offene Tür ein. Wer öffnete dann die Tür und warum? Und wie viele andere Deutsche waren bereit, öffentlich gegen den Strom zu schwimmen, oder sich gar, mitten in dem Unternehmen, den allerletzten Juden aus dem Reich zu beseitigen, in der Hoch-Zeit des Genozids also, öffentlich mit Juden zu verbünden? Wie viele drückten überhaupt öffentlich ihre Meinung gegenüber irgendeiner Politik aus, anstatt sich anzupassen?

Die Widersetzlichkeit der Frauen in der Rosenstraße durchbrach einen Mechanismus, der für die Nazimacht wesentlich war. Deutsche Beamte, die von der Endlösung wussten und damit einverstanden waren, nicht darüber zu sprechen, hießen in der Sprache der Nazis „Geheimnisträger“. Ein elementarer Aspekt der Kollaboration bestand darin, sich im Wissen freiwillig zu verbünden, die Wahrheit aber zu verheimlichen. Die mit Juden verheirateten Frauen, die sich weigerten, wegzuschauen, es ablehnten, sich scheiden zu lassen, und in der Rosenstraße ihr Leben riskierten, drohten nicht so sehr andere in den offenen Dissens zu führen (denn das war selbst für die, die in der „inneren Emigration“ lebten, ein allzu großer Schritt), als vielmehr die Augen anderer für unbequeme Wahrheiten zu öffnen.

Dieses Ereignis, in dem gewöhnliche Leute auf die Bühne der Geschichte treten, ist wesentlich für ein Gesamtbild von Gesellschaft und Diktatur des „Dritten Reichs“. In der hierarchischen, autoritären Auffassung des Staates, wie sie sich auch in dem Widerstandsbegiff der frühen Nachkriegszeit niederschlug, ist die Rosenstraße als Ereignis ausgeschlossen. In der Rosenstraße stehen Frauen im Mittelpunkt. Ihre Würdigung bedeutet auch, die wenigen gewöhnlichen Deutschen zu würdigen, die ihr Leben riskierten, um dem Regime zu trotzen. Sie ist zugleich ein Schritt dahin, den Menschen und ihren Institutionen die Verantwortung für den Widerstand zurückzugeben, relativ zu dem Maß, in dem die Menschen Verantwortung für Hitlers Machtergreifung und seine Massenvernichtung trugen.

Das Gewicht, das die Mischehen für das Regime hatten, verweist nicht nur darauf, dass es von der Unterstützung durch die Masse der Deutschen abhing. Es zeigt auch, dass individuelle oder kollektive Gehorsamsverweigerung die Verbrechen möglicherweise eingedämmt hätte. Die Geschichte der Rosenstraße ist die Brücke, die eine neue Perspektive von unten mit der individuellen Verantwortung für den Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland verbindet.

Kontakt:
Professor Nathan A. Stoltzfus
Department of History Florida State University
447 Bellamy Bldg.
Tallahassee, FL 32306-2200
nstoltzf@mailer.fsu.edu

Quelle: Nathan Stoltzfus, in: Die ZEIT Nr. 45, 30.10.2003

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