Wenn die Menschen glauben, dass die alten Geschichten bei ihm ihren ewigen Frieden finden, muss Matthias Buchholz sie enttäuschen. Ein Archiv ist kein Grab, ein Archivar kein Bestatter, und ohnehin ist es doch nicht so, dass die Vergangenheit eines Tages einfach stirbt. Höchstens die Erinnerung daran, was Matthias Buchholz für eine Gefahr hält. „Vergangenheit ist immer aktuell, wenn es um sie so etwas wie ein Kartell des Schweigens gibt“, sagt er, und deshalb packt er nun diesen Postkarton voller düsterer Vergangenheit und geht damit von den abgedunkelten Räumen im Parterre der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur durch kaltes Neonlicht und nackte Gänge hinauf in den ersten Stock, wo es etwas heller ist.
Er ächzt leise an der Treppe und schwankt ein bisschen. Aufarbeitung ist beschwerlich, aber Matthias Buchholz, der ein schmächtiger Mann ist, lässt sich nichts abnehmen. „Die Kiste ist nicht schwer, nur etwas unhandlich.“ Ein paar Meter noch, links in die lange Allee aus gelben Türstöcken, einen der vielen Endloskorridore dieses Gebäudeklotzes Otto-Braun-Straße 70-72, der sich wie ein trauriges Ungeheuer aus der Berliner Asphaltebene am Alexanderplatz erhebt. Matthias Buchholz lässt die Kiste fallen. In seinem Büro herrscht die Unordnung eines Mannes, der ab und zu ganz gerne in Arbeit versinkt. Draußen rauscht gleichgültig der Verkehr vorbei. Der Archivar schnauft. Bitteschön, sagt sein Blick, viel Spaß beim Tauchgang in die Abgründe des deutschen Sports.
Vielsagende Titel
Es ist in diesem Moment tatsächlich so, als habe sich das Tor zur Unterwelt einen Spalt weit geöffnet. Allerdings wirklich nur einen Spalt weit. Diese Geschichte des systematischen Dopings in der DDR passt nicht in eine Kiste, sie ist zu groß, und sie hat noch ganz andere, viel klarere Zeugnisse neben diesen paar Forschungsarbeiten im gelben Karton, die vielsagende Titel tragen: „Zur Wirkung anaboler Steroide auf die sportliche Leistungsentwicklung in den leichtathletischen Sprungdisziplinen.“ – „Zur Bestimmung der Wirkung von Training und wiederholter Applikation von Oral-Turinabol auf die Leistungsentwicklung sowie Veränderung ausgewählter biologischer Parameter im Venenblut am Beispiel leichtathletischer Sprintdisziplinen.“ – „Berichte über die Wirkung des Einsatzes von STS646 bei der Handballnationalmannschaft Frauen.“ Und so weiter.
Es gibt weitere Akten aus dem DDR-Nachlass. Papiere, die Täter und Geschädigte nennen. Quellen, aus denen Dokumentationen wuchsen. Beweismaterial, das vor Gericht bestand. Im vergangenen Jahr hat Professor Werner Franke, Molekularbiologe an der Universität Heidelberg, nach jahrelanger Enthüllungsarbeit mit seiner Frau, der früheren Diskuswerferin Brigitte Berendonk, dem Archiv der Stiftung solche Akten geschenkt. Franke wollte, dass jeder sie einsehen kann. Doch das hat nicht ganz geklappt, ein Teil seiner Schenkung bleibt im Schatten des Stiftungsarchivs. Buchholz kann vorerst nur die gelbe Kiste bieten. Es tut ihm leid. Es geht nicht anders.
Frankes Material ist zu brisant, was die Allgemeinheit davon sehen darf, bestimmt nicht er, auch nicht Buchholz oder die Stiftung. Sondern das deutsche Rechtssystem, und das sagt, dass man die Vergangenheit, die sich in abgeschlossenen Fällen spiegelt, nicht beliebig wieder hervorkramen darf, wenn sie einzelne Privatpersonen belastet. Es könnte passieren, dass der Antidoping-Kämpfer Werner Franke in Konflikt mit dem Gesetz gerät. Da ist Buchholz lieber vorsichtig und beugt sich dem Eindruck, den er, gebürtig in Magdeburg, Jahrgang ’71, beredt und belesen, bei aller Bescheidenheit mal so umschreiben würde: „Maßgebliche Teile der Gesellschaft sind nicht wirklich daran interessiert, das Thema Doping grundlegend aufzuarbeiten.“
Viele Beobachter haben das festgestellt, und vor allem erleben sie, dass das DDR-Doping zunehmend in den Nebel einer kalkulierten Vergesslichkeit rückt. Der Sport ist eine deutsche Leidenschaft, Wirtschaftsfaktor, gesellschaftliche Klammer. Eine Traumfabrik, die noch echte Helden auswirft. Da stören Misstöne nur und trüben die bunte Kulisse, in der sich wie sonst nirgends Geld und Moral verbinden lassen.
Und so dosieren die großen Sportbetreiber sehr gezielt die Erinnerung an die Geschichten von einst, die Medien, die Manager, und auch die Verbände als staatlich gestützte Sachwalter des Sportbetriebs: Ihre Sportgeschichte ist voll von Legenden und sagenhaften Heldentaten. Was nicht dazu passt, geben sie frei zum Vergessen. Und das DDR-Doping passt nicht dazu nach all dem Ärger, den es in den Neunzigerjahren entfachte: nach den Recherchen der Brigitte Berendonk, ihrem Buch „Doping-Dokumente“, Frankes Einsteigen, den Klagen früherer Athleten.
Heute steht fest: Das Dopingsystem in der DDR gab es, es hat Jugendliche rücksichtslos mit Chemie gepäppelt und die Gesundheit vieler früherer Sportler zerstört. Die Weltrekorde und Olympiasiege der DDR-Stars waren nicht nur Ergebnis von Talent und Fleiß, sondern auch einer flächendeckenden, staatlich verordneten Muskelmast. Doch vor drei Jahren endete der Prozess gegen die Verantwortlichen und ihre Vollstrecker mit Freiheitsstrafen zur Bewährung und Geldbußen, in den Verbänden nahmen die verurteilten Trainer wieder ihre Arbeit auf. Ende März 2003 ist die Meldefrist für Geschädigte des Zwangsdopings abgelaufen, denen der Staat per Gesetz eine finanzielle Entschädigung zugebilligt hat, zwei Millionen Euro insgesamt. Nun droht das große Vergessen.
Dabei ist das Thema noch ziemlich lebendig. Natürlich, die Meldefrist ist zu Ende, und der eigens gegründete Verein zur Dopingopfer-Hilfe hat seine Dependance in Berlin abgeben müssen. Aber Birgit Boese, in ihrer DDR-Jugend Kugelstoßerin, vom Doping gezeichnet und weiterhin als Beraterin der Dopingopfer tätig, sagt: „Das ist absolut kein Schlusspunkt.“ Der Kampf geht weiter, denn die Frist war kurz. Viele Dopingopfer erfuhren zu spät von ihren Ansprüchen, andere scheuten die Meldung aus Scham. Am Freitag beginnt zudem in Frankfurt ein neuer Prozess zur ungeliebten Vergangenheit. Die frühere DDR-Schwimmerin Karen König verklagt das Nationale Olympische Komitee auf Schadenersatz. Schließlich hat es Vermögen des DDR-NOKs übernommen.
Hang zur Selbsttäuschung
Und im Ausland ist man sensibel: Zu Beginn des Jahres empörte sich die britische Presse über ihre Siebenkampf-Olympiasiegerin Denise Lewis, weil sie sich dem deutschen Ekkart Arbeit anschloss, der vor der Wende als DDR-Verbandstrainer der Abteilung Wurf das Dopingsystem mitstützte – genauso wie der Cheftrainer des Deutschen Leichtathletikverbandes. Bernd Schubert war als DDR-Verbandstrainer Sprung/Mehrkampf einst Arbeits Kollege. Und an Franke wenden sich Journalisten aus aller Welt. Sie sind brennend interessiert an den Leidtragenden des DDR-Sports. Denn ihre Geschichten erzählen von den Gefahren des Dopings. Franke sagt: „Das Thema ist im Ausland absolut in.“
In Deutschland dagegen winkt man ab oder plaudert über das Thema hinweg. Es gibt ein paar besorgte Politiker, Manfred von Richthofen, Präsident des Deutschen Sportbundes, hat Verfehlungen des Sports eingeräumt. Aber sonst? „Sehen Sie sich doch diese unglückseligen Nostalgie-Shows an“, sagt Birgit Boese. Da bekommt sie noch einmal die Errungenschaften des Systems vorgeführt, das sie von einem arglosen Mädchen in eine körperlich gebrochene Frau verwandelt hat. Und zwar in der ganzen Oberflächlichkeit kommerzieller Unterhaltungskunst, die alles erlaubt, nur keinen tieferen Gedanken. Sie kann das kaum ertragen, und auch wer die Wirklichkeit nicht am eigenen Leib spürte, schüttelt den Kopf. „Neulich. Ostalgie-Show“, fängt Matthias Buchholz an und man merkt gleich, dass er jetzt keinen Witz erzählen wird. „Da haben sie die DDR-Sportler eingeladen, haben die abgefeiert. Und kein Wort, aber nicht einmal andeutungsweise die Frage Doping.“
Das Gefällige ist im Trend. Die Art, wie das DDR-Doping im Bewusstsein der Öffentlichkeit an Konturen verliert, ist da nur ein Beispiel für einen deutschen Hang zur Selbsttäuschung. Matthias Buchholz ist selbst ein Kind der DDR, aber das, was mittlerweile Ostalgie heißt, diese Rückbesinnung auf irgendeine überholte Plattenbauromantik, hat er nie empfunden. Dazu hat er die DDR zu gut verstanden. Sollen die Leute doch über die alten Tempo-Linsen schmunzeln und über die Bambina-Schokolade. „Es ist ja lustig, wenn sie das aus dem Regal nehmen.“ Aber was sagt das über die DDR? „Da hat Eppelmann etwas ganz Zutreffendes gesagt.“ Rainer Eppelmann, einst DDR-Bürger, SED-Kritiker, heute Bundestagsabgeordneter und Vorstandsmitglied der Stiftung. „Er befürchtet, dass bei all den Ostalgie-Shows irgendwann keiner mehr weiß, warum die Leute damals auf die Straße gegangen sind.“ Und dazu fällt Buchholz die Begegnung mit einem früheren Lehrer ein. „Der fragte, wo ich arbeite. Ich sag: Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Bitte wo? Hab ich noch mal gesagt, wie das heißt. Er fragt: Was gibt’s denn da aufzuarbeiten? Ich sag: Na ja, man konnte hier nicht seine Meinung sagen, Leute sind in den Knast gewandert, sind umgebracht worden. Er antwortet: Ich konnte immer meine Meinung sagen. Ich sag: Vielleicht hatten Sie die richtige. Da ist er gegangen.“ Matthias Buchholz sagt: „Manche wollen nicht wahrhaben, wie perfide dieses System war.“
Also schweigen sie. Denn Schweigen ist einfach, und Schweigen schützt. Kein Trainer aus dem alten Dopingsystem, kein Funktionär, kein Arzt hat sich je freiwillig bei den Geschädigten entschuldigt. Auch nicht das Unternehmen Jena-Pharm, heute eine hundertprozentige Tochter des Schering-Konzerns, obwohl Jena-Pharm in der DDR die bittere Sportler-Medizin lieferte. Die Spende des Konzerns für den Opferhilfe-Fonds in Höhe von 25 000 Euro wollte Schering ausdrücklich nicht als Schuldeingeständnis verstanden wissen.
Selbst jene ehemaligen DDR-Trainer, die heute hohe Posten bekleiden und plötzlich aus voller Überzeugung die Antidoping-Bestimmungen ihrer Verbände mittragen, haben öffentlich noch kein Zeichen der Reue gezeigt. Bernd Schubert zum Beispiel gibt kein Interview zu seiner Vergangenheit. Niemand tut es, sie scheuen die Diskussion. Ein Fernsehreporter von damals bittet höflich um Vergebung. Und Klaus Huhn, in der DDR Sportchef des SED-Organs Neues Deutschland und Multifunktionär, seufzt und lässt alles abprallen mit seiner mächtigen Stimme, die manchmal so laut durch den Telefonhörer donnert, dass man den ein bisschen vom Ohr weghalten muss. Ein Interview über Sportgeschichte? „Ich glaube nein. Es bringt doch nichts.“ Zum Thema Doping? „Auch müßig. Wir müssten fünf Stunden zusammensitzen, und die habe ich nicht. Wenn Sie mich etwas anderes gefragt hätten, hätte ich gerne geholfen. Einen schönen Tag. Meinetwegen auch eine schöne Woche. Man wird Ihnen schauerliche Geschichten erzählen. Die können Sie glauben oder nicht. Good luck to you.“
Die Biografien all dieser Menschen haben die Wende nicht verkraftet, sie haben früher gut gelebt, und jetzt versuchen sie, den Erfolg zu retten, den sie in der DDR genossen haben. Klaus Huhn sagt: „Es hat sich nichts Wesentliches für mich verändert durch Akten.“ Und das klingt wie die Gegenfrage zu all den Vorwürfen, deren Antwort er nie abwarten würde: Soll ich mein Selbstbildnis zerstören, bloß weil eine Mauer gefallen ist? Soll Kristin Otto, die frühere DDR-Schwimmerin, ihren Stolz auf sechs Olympische Goldmedaillen von Seoul 1988 verleugnen? Ihre Lebensleistung als Athletin? Ihre Glaubwürdigkeit als Sportjournalistin, die sie heute beim ZDF mehr denn je braucht? Soll die Weitsprung-Olympiasiegerin Heike Drechsler ihre ganze Jugend ins Zwielicht rücken? Oder die Eiskunstläuferin Katarina Witt an den Grundfesten ihres Ruhms rütteln? Nur weil der Sportwissenschaftler und DDR-Aufarbeiter Giselher Spitzer, ein gebürtiger Kieler, sagt: „Es gibt mittlerweile Beweise, dass im Zwangsdopingsystem der DDR auch Eiskunstlauf der Frauen eine Rolle spielte.“? So stark sind sie alle nicht, so stark sind wahrscheinlich sowieso nur ganz wenige. Matthias Buchholz sagt: „Ich denke, dass es sehr schwer ist, sich mit einer Vergangenheit auseinander zu setzen, die einen selbst in Frage stellt.“
Gegenwind aus dem Osten
Es bleibt die Leere, die das Vergessen der Prominenten hinterlässt, und das Problem, dass sie diese Leere von Zeit zu Zeit füllen müssen. Schließlich wollen die Deutschen hoch hinaus mit ihrem Sport. Sie wollen Olympia 2012 veranstalten. In Leipzig, wo das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport steht, zu DDR-Zeiten das Zentrum staatlicher Dopingforschung. Ausgerechnet. Die Bewerber haben Probleme, weil sie zu sorglos mit den Stasi-Verstrickungen hoher Funktionäre umgingen. Irgendwann könnte auch das Thema Doping wieder hochkommen. „Wenn die Bewerbung ernst gemeint ist“, sagt Spitzer, „muss man diese Belastung eigentlich aufarbeiten.“
Aber Aufarbeitung ist beschwerlich. Jahrelang hat Spitzer, ausgezeichnet mit dem Preis des Dopingopfer-Hilfe-Vereins und Beirat der Antidopingagentur Nada, als Forscher das Renommee der Universität Potsdam gemehrt. Jetzt ist es offenbar genug, die Granden des Hauses scheint ein steifer Gegenwind aus Osten anzuwehen. Jedenfalls wurde Spitzers Vertrag nicht verlängert. Er hat auf Wiedereinstellung geklagt und will nicht zu viel schimpfen. Er brummt wie ein mürrischer Bär. Die Zeiten sind seltsam.
Die Kraft der Verdrängung ist groß, und doch hat sie nicht gewonnen. Die Verdrängung ist eine weitere Schwäche des ehrgeizigen deutschen Sports geworden, die ihn mit seinen hohen moralischen Ansprüchen stetig in Widersprüche verstrickt. Sie hat ihn angreifbar gemacht. Man muss kein Fachmann sein, um das zu sehen. „Ich glaube“, sagt Matthias Buchholz und betont, dass nun eine ganz und gar subjektive Analyse folgt. „Ich glaube“, sagt er also, „wenn man sich ernsthaft mit dem Thema DDR-Doping beschäftigen würde, müsste man auch die Praktiken im Sport überhaupt in Frage stellen. Und das will man ja nicht.“
Er selbst hält wenig vom Vergessen. Das Vergessen schlägt Löcher. Ein Archivar mag keine Löcher. Die Leute sollen ruhig kommen und in seine gelbe Kiste schauen. Vielleicht kann er eines Tages sogar Frankes brisantes Material zeigen. Obwohl der Professor sich in dieser Sache ja durchaus zu helfen weiß. Er hat Kopien seiner Akten in die USA gebracht. Sie liegen an der Universität von Austin/Texas. Abrufbereit auch im Internet. Es ist alles in Ordnung. Die unbequemen Erinnerungen sind in Sicherheit.
Quelle: SZ, 22.10.2003