Der Gang in die Archive führt uns in keine staubige Abstellkammer. Am Anfang begrüßt uns ein ebenso monumentales wie unscharfes Schwarz-Weiß-Photo an der Wand. Es zeigt einen halb zerfetzten und geöffneten Pappkarton, aus dem ein Chaos von Briefen, Dokumenten und Papierfetzen quillt. Daneben ein Karton mit sorgsam gebündelten Papieren. So hielten die persönlichen Archive Picassos im Jahre 1980 Einzug in das Picasso Museum Paris. Noch nie wurden sie als Einheit vorgestellt und verstanden, verkündet stolz Ausstellungsleiterin Laurence Madeline:
„Oftmals werden die Archive nur als wissenschaftliches Gegengewicht gezeigt. Als Beweisstück. Um zu sagen: Sehen Sie, hier hat er diesen oder jenen getroffen, wie wir im Adressbuch sehen können usw. Es geht immer nur um punktuelle Dinge. Wir zeigen erstmals das gesamte Archivmaterial als Einheit – mit seiner entsprechenden Eigendynamik. Und wir zeigen das Material auf eine ästhetische Art und Weise. Man könnte sogar sagen, dass diese Ansammlungen von Papieren, die Picasso sein gesamtes Leben lang betrieben hat, dass es sich dabei um ein Spontan-Werk handelt, eine Kunst, die parallel zu seinem normalen Werk verlief.“
Der Rundgang beginnt in der Privat- und Intim-Sphäre Picassos. In einem Brief aus dem Jahr 1906 beschreibt er für Max Jacob in einem äußerst gebrochenen Französischen seinen inneren Kampf mit der Malerei. Er schreibt ein Wort, streicht es wieder durch, ringt sich mit Hilfe von Wortbrocken zum Wesentlichen durch. Zeigt sich etwa „glücklich, ein Bild ohne Löcher gemalt zu haben. Wenn Du verstehst, was ich meine. Farbtöne ohne Perspektive, Farben als Farben. Das ist eine nackte Frau.“ Zitat-Ende. Etwas weiter ein flammender Liebesbrief vom 4. März 1918:
„Hier sehen wir einen Liebes-Schwur, den Picasso und Olga schriftlich niedergelegt haben. Olga hat ihn geschrieben und Picasso hat ihn mit unterzeichnet. Das war vor ihrer Heirat. Sie schwören sich Liebe und Frieden bis zu ihrem Tode. Ein vollkommenes Engagement Picassos zu diesem Zeitpunkt. Er scheint daran zu glauben. Das ist sehr berührend, zu sehen, wie er sich jemandem anvertraut hat, wie er in Richtung Zukunft schreitet, jemandem nahe steht.“
In konzentrischen Kreisen dringen wir in der Ausstellung von intimsten Aufzeichnungen zum Briefwechsel mit Kollegen und Freunden vor. Schon sehr früh degradiert Picasso seine Freundschaften in fast unterwürfige Beziehungen. Gertrude Stein bettelt 1918: „Mein lieber Pablo, kein Wort von Ihnen. Ich bin beunruhigt.“
Der ständig ignorierte Cocteau verzweifelt 1922: „Warum schreibst Du nie?“ Breton 1935: „Sie wissen, wie sehr ich sie bewundere und geträumt habe, einen kleinen Platz in ihrem Leben einzunehmen.“ Paul Eluard 1940: „Mein lieber Freund, wie schweigsam sie sind, abwesend, weit weg und fast distanziert.“ Ein finanzieller Hilfeschrei von Victor Brauner aus dem Jahr 1943. Matisse 1944: „Ich weiß, dass sie es hassen zu schreiben. Aber mir zuliebe, lassen sie doch jemanden anderen für sie antworten.“ Picasso liest, Picasso sammelt, aber Picasso antwortet nicht.
„Der Tonfall in den Briefen ist sehr unterwürfig. Weil Picasso sehr schnell jemand geworden ist, der über allem stand – auch wenn das vielleicht nicht das richtige Wort ist. … Ich glaube nicht, dass er diese Dokumente für einen Ernstfall aufgehoben hat, denn es reichte aus, dass er mit dem Finger schnippte, um zu erreichen, was er erreichen wollte. Er musste keinerlei Druck ausüben.“
Picasso hatte in seinen Wohnungen Riesen-Stapel mit Papieren und Dokumenten angehäuft. Zum Ordnen hatte er nicht genügend Zeit. Das Wirrwarr von einem Sekretär ordnen zu lassen, dafür hatte er nicht genug Vertrauen. In der Ausstellung wird die Manie des Alles-Sammlers skrupellos seziert. Briefe hängen eingerahmt an der Wand. Zirkuskarten, Freikarten für das Theater, Hotelabrechnungen sind säuberlich als Einzelhäufchen geordnet und werden dokumentarisch in Schaukästen präsentiert, Schneider-Rechnungen originell auf Sockeln präsentiert, Bettelbriefe und Bewunderungs-Schreiben als meterlange Archiv-Reihen in Szene gesetzt.
„Er sammelte zum einen aus Aberglauben. Dahinter steht die Idee, dass etwas, was ihm zugestoßen ist, ihm auch gehört, etwas von ihm wird und etwas von ihm in sich trägt. Zum anderen wusste er, dass jedes Stück Papier, das von Picasso bekritzelt worden war, einen Wert besaß. Es war sicher auch leichter, Dinge zu stapeln, als sich überlegen müssen: das werfe ich weg, das behalte ich… Brassaï hatte sich über die Papierberge bei Picasso gewundert. Picasso antwortete ihm: er versuche eine möglichst umfassende Dokumentation über sich zu hinterlassen, denn es reiche nicht aus, den Künstler zu kennen, sondern man müsse auch den Menschen kenne.“
In der Ausstellung werden Picassos Obsessionen akribisch addiert und subtrahiert: Picasso hat 20.106 Briefe von 4.157 unterschiedlichen Absendern aufbewahrt. 15.242 Fotografien lassen sich in seinen Archiven finden. 1.903 Postkarten. 2.601 Dokumente in Bezug auf den Spanischen Bürgerkrieg. 42 Eintrittskarten für Stierkämpfe. 8 Freikarten für die Ballets russes. Eine Miet-Quittung Nr. 88 von Juni 1906 aus seiner Wohnung im Bateau-Lavoir: 120 Francs Miete, 5 Franc für das Gaz und 10 Centimes für die Briefmarke. Elende Erbsenzählerei oder essentielle Erkenntnisse?
„Nein. Ich finde, dieses Ensemble ist kein Meisterwerk, aber es ist ein Gesamtwerk. Ich kann nicht einzelne Dokumente herauslösen. Aber ich habe beispielsweise ein Atelier entdeckt, von dem bisher niemand wusste, dass es existierte. Oder ein Projekt, das Picasso für sein Schloss hatte, von dem niemand etwas geahnt hatte. Ich hoffe, dass diese Ausstellung neue Forschungen über Picasso anstoßen wird.“
Selbst für die Post seiner zahlreichen Verehrer fand Picasso Platz. Von seinem 80. Geburtstag 1961 archivierte er 909 Glückwunschkarten. Eine bislang unerforschte Rezeptionsgeschichte. Allein 64 von Fans gemalte – eher misslungene – Picasso-Porträts finden sich an den Ausstellungswänden. Auf den Umschlägen hatte Picasso handschriftlich vermerkt: „Mein Porträt“. Picasso: ein dubioser Hüter seines eigenen Personenkultes.
Service:
Die Ausstellung „Man ist, was man aufbewahrt – Die Archive von Picasso “ ist im Pariser Picasso-Museum vom 21.10.03 bis 19.1.2004 zu sehen.
Quelle: Deutschland-Radio Berlin, 20.10.2003