Peter Müller spricht in Metern. Allein einen Kilometer Entnazifizierungsakten werden im Staatsarchiv Ludwigsburg bewahrt, erzählt der Leiter des Archivs, 700 Meter Wiedergutmachungsakten, 200 Meter Justizüberlieferungen – Unmengen von Papier, das viele Geschichten zu erzählen weiß. Seine Mitarbeiterin Elke Koch stellt einen großen Karteikasten auf den Tisch. Vergilbt und abgegriffen sind die Karten. Wer Fragen an die kilometerlangen Aktenbestände hat, musste sich bislang erst Zentimeter für Zentimeter durch Karteikarten wühlen, bevor er die richtige Akte und damit eine Antwort erhoffen konnte, erklärt sie. Dann greift sie zur Computermaus, klickt ein Suchfeld auf dem Laptop-Schirm an und gibt einen Begriff ein. „19 Treffer“ meldet ihr der Computer und liefert ihr die Aktenzeichen gleich mit. Für die Benutzer des Staatsarchivs hat damit die mühsame Suche hat ein Ende.
Für die Journalistin Christiane Kohl kommt diese Neuerung zu spät. Während ihrer Recherchen über die Kriegsverbrechen deutscher Soldaten in Italien während des Zweiten Weltkriegs wühlte sich die Italienkorrespondentin der „Süddeutschen Zeitung“ auch durch das Ludwigsburger Staatsarchiv und die Bestände der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“. Was sie dort und andernorts fand, verarbeitete sie in ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Tatsachenroman „Villa Paradiso. Als der Krieg in die Toskana kam“.
Mit ihrer Arbeit löste sie Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen neun ehemalige SS-Soldaten aus, die 1944 an der Ermordung der Bewohner des italienischen Dorfes Sant“ Anna di Stazzema beteiligt gewesen sein sollen. Etwa 400 Tote wurden damals namentlich identifiziert, darunter waren mehr als 110 Kinder. Wie viele Menschen tatsächlich starben, ist unklar: Damals befanden sich viele Flüchtlinge in dem Bergdorf zwischen Carrara und Lucca, die Leichen wurden teilweise gestapelt und angezündet.
Ein SS-Soldat, der in Sant“ Anna dabei war und im Kreis Böblingen lebt, erzählte Christiane Kohl von seinen Erlebnissen. Sie nannte ihn Heinz Otte. Er berichtete ihr unter anderem von seiner Verletzung: einem Streifschuss am Kopf. Dieser Hinweis führte die Ermittler auf seine Spur. Mittlerweile hat die Zentrale Stelle den Fall an die Stuttgarter Staatsanwaltschaft übergeben.
Die Arbeit der Stelle geht weiter. Dazu wird ihr Leiter Kurt Schrimm in den kommenden Jahren viele Archive besuchen und sich durch Akten wühlen müssen. „Wir durchforsten Archive, die uns die vergangenen 50 bis 60 Jahren nicht zur Verfügung standen“, erklärt Schrimm. Ein Kollege sei vor kurzem in der Ukraine gewesen und habe Material des Geheimdienstes KGB gesichtet. Er selbst hat sich in Washington mit Akten der US-Behörden befasst, die den Lebenslauf deutschstämmiger US-Bürger auf ihre Nazivergangenheit durchleuchtet hatten, und nach dieser Reise „fünf neue Verfahren eingeleitet“.
Christiane Kohl liest am Mittwoch, 15. Oktober, um 19 Uhr im Staatsarchiv Ludwigsburg, Arsenalplatz, aus dem Buch „Villa Paradiso“.
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Quelle: Stuttgarter Zeitung, 14.10.2003