Jeder Benutzer der Berliner Staatsbibliothek kennt die älteren Katalogsignaturen häufig angefügte Zusatzinformation: „Kriegsverlust möglich“. Er weiß, dass die Bestellung in solchen Fällen nicht grundsätzlich aussichtslos ist. Gelegentlich wird erst durch die Bestellung selbst geklärt, ob das Buch nach 1945 in die Bibliothek zurückgekehrt ist.
Aus der „Preußischen Staatsbibliothek“ wurden in den Kriegsjahren 1941 bis 1945 mehr als drei Millionen Druck- und Handschriften ausgelagert. Es war die größte Umschichtungs- und Sicherungsaktion, die es innerhalb der europäischen Bibliotheksgeschichte je gegeben hat. Von den ausgelagerten Druck- und Handschriften kehrten ungefähr 850.000 nach Kriegsende nicht nach Berlin zurück. Werner Schochow hat jetzt die Geschichte dieser Verlagerungsaktion geschrieben, in Anknüpfung an seine 1989 erschienene, mit einem reichhaltigen Quellenteil versehene Überblicksdarstellung zur Geschichte der Bibliothek zwischen 1918 und 1945.
Die Bestände des Ostberliner Hauses Unter den Linden und des Westberliner Hauses an der Potsdamer Straße sind nach dem Fall der Mauer zusammengeführt worden. Die Perspektive der Sichtung der Bestände nach dem Ende der Nachkriegszeit prägt Schochows minutiöse Rekonstruktion der Verlagerungen. Er will möglichst genau darlegen, was wo verblieben, verschollen oder definitiv vernichtet ist. So beschränkt er sich nicht darauf, die drei großen Auslagerungswellen (Frühjahr/Herbst 1941, Sommer 1942 bis Sommer 1943, Sommer 1943 bis 1945) aus der Sicht der Berliner Bibliothekare und ihrer Logistik zu rekonstruieren. Er folgt den Büchern in ihre verstreuten Depots im Westen, Süden und Osten des damaligen Reichgebietes. Nach Hessen und Württemberg, Böhmen und Schlesien, bis hinauf nach Pommern. Systematisch führt er Ortsnamen und Signaturengruppen zusammen.
Nicht geringe Dunkelziffer
Zwei Motive beherrschen die Darstellung der Zeit nach 1945: Rückführung und Recherche. Über ein Jahrzehnt dauerte es, bis von den mittleren Sechziger Jahren etwa die Bestände aus Marburg mit seinen vier Außenstellen und aus dem Tübinger Depot langsam nach Westberlin geführt wurden, wo der Scharoun-Bau im Dezember 1978 geöffnet wurde. Äußerst schleppend verlief die Recherche nach dem Verbleib der nach Osten ausgelagerten Bücher. Die schlesischen und pommerschen Depots lagen nun in Polen, viele Bücher waren aus ost- und mitteldeutschen Depots in die Sowjetunion gelangt.
Schochow zeigt, wie wenig erfolgreich auch die Vorstöße der Ostberliner Staatsbibliothek bei ihren polnischen Kollegen jahrzehntelang waren. Die Rückführungsaktion aus Polen erfolgte 1963 „nicht als Rückerstattung an den rechtmäßigen Eigentümer, sondern als Geschenk an den sozialistischen Nachbarn“. Das Grundmotiv der restriktiven Informationspolitik sowohl in Polen wie in der Sowjetunion war der Grundsatz, die Berliner Bestände als Kompensation für eigene Kriegsverluste aufzufassen.
„Im ganzen beherbergt Polen heute vom alten Bestand der Preußischen Staatsbibliothek – bei einer nicht geringen Dunkelziffer, die nur Detailuntersuchungen aufhellen könnten – weit über 100.000 Bände sowohl geistes- wie naturwissenschaftlichen Inhalts. Sie befinden sich in acht Bibliotheken und Instituten des Landes. Bei der Beurteilung dieser Tatsache darf man den beträchtlichen personellen und materiellen Aufwand nicht übersehen, den Polen zur Sicherung und Pflege der kriegsbedingten Auslagerungen im Verlauf von fünf Jahrzehnten geleistet hat.“
Schochows Studie „Die Preußische Staatsbibliothek und Polen seit dem Zweiten Weltkrieg“ (1997) ist in dieses Buch eingegangen.Nicht nur durch ihre Genauigkeit beeindrucken seine Recherchen, sondern auch durch die Behutsamkeit, mit der sie das Thema der Rückführung Berliner Bestände aus polnischen oder russischen Bibliotheken behandeln. Dies Buch demonstriert das Eigenrecht der wissenschaftlichen Recherche auch dort, wo das Problem der Restitution politisch nach wie vor ungelöst ist.
Info:
WERNER SCHOCHOW: Bücherschicksale. Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung. Zerstörung. Entfremdung. Rückführung. Dargestellt aus den Quellen. Mit einem Geleitwort von Werner Knopp. Walter de Gruyter, Berlin und New York 2003. 328 Seiten, 48, 95 Euro.
Quelle: SZ, 4.10.2003