Das öffentliche Archiv der Landeshauptstadt Wiesbaden befindet sich hinter dem alten Dotzheimer Güterbahnhof. Dort wurden 1989 die Räume einer ehemaligen Fabrik bezogen, weil es im vorherigen Domizil in der Hengstenberg-Villa in der Humboldtstraße zu klein geworden war. Hier stehen dem Stadtarchiv insgesamt 1.703 Quadratmeter zur Verfügung, wobei bisher nur ein Teil dieser Fläche für die dauerhafte Aufbewahrung von Archivgut optimale klimatisierte Bedingungen vorweisen kann.
Erst „entgräten“
Im Flur vor den Arbeitsräumen der Archivdirektorin Dr. Brigitte Streich und ihrer acht Mitarbeiter stehen Stapel von Akten und Papieren aller Art. Sie sind neu angekommen. Bevor sie erschlossen und registriert werden können, müssen sie zunächst „entgrätet“ und „umgebettet“ werden. Alles Metall wird entfernt, denn dieses rostet und greift das Papier an. Der Inhalt wird gesichtet und registriert, dann das Schriftgut in spezielle Kartons gelegt, wo es lange Zeiten überdauern kann. Die fertig erschlossenen Akten werden in Rollregalen in großen klimatisierten Archivräumen untergebracht. Dort sind bereits zweieinhalb Kilometer aneinander gereiht!
Da das Archiv im Laufe seiner Geschichte mehrmals umgezogen ist und über lange Zeiträume hinweg eher stiefmütterlich behandelt wurde, gibt es größere Lücken in den Beständen, ganz zu Schweigen von den Verlusten durch die bewussten Vernichtungsaktionen wie denen des damaligen NS-Bürgermeisters Piékarski, der vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen in Wiesbaden im März 1945 fast sämtliches im „Dritten Reich“ entstandenes Schriftgut der Hauptregistratur vernichten und die bei seiner Flucht mitgenommenen Personal- und Geheimakten in Bad Elster verbrennen ließ. So gehört die städtische Zwangsarbeiterkartei mit fast 3.000 Namen und Bildern heute zum seltenen Archivgut dieser Zeit im Stadtarchiv.
In der Gegenwart regeln das Hessische Archivgesetz und eine „Satzung über die Archivierung des Archivgutes der Landeshauptstadt Wiesbaden“ ganz genau, auf welches Schriftgut das Archiv Anspruch hat. Mit der Einführung dieser Archivsatzung, die am 12. Dezember 1991 von der Stadtverordnetenversammlung beschlossen wurde, sind die Dezernate, Ämter und Betriebe der Stadt verpflichtet, „alles Schriftgut und alle sonstigen Informationsträger, die zur Erfüllung ihrer laufenden Aufgaben nicht mehr erforderlich sind, unverzüglich auszusondern und dem Archiv zur Übernahme anzubieten“. Neben den Protokollen der Stadtverordnetenversammlung und ihrer Ausschüsse und den Magistratsprotokollen wird Wiesbadens Geschichte im Stadtarchiv in drei Abschnitten dokumentiert: Wiesbaden unter Nassau (bis 1866), Wiesbaden in preußischer Zeit (1866 bis 1945/46), Landeshauptstadt Wiesbaden (seit 1945/46). In gesonderten Beständen erfasst sind die eingemeindeten Orte und Ortsverwaltungen und so genannte „Privata“, dazu gehören Nachlässe und Sammlungen, die dem Stadtarchiv übergeben wurden, Schriftgut von Vereinen und Verbänden, von Parteien und Wirtschaftsunternehmen.
Multimedia-Archiv
Zu finden sind hier auch Sammlungen: Plakate, Postkarten und Stiche zum Beispiel und weit über 1.000 Zeitungsbände. Die große Zeitungsauschnittsammlung ist nach Sachgebieten und Personen erschlossen. Beeindruckend ist auch die umfassende und in Teilen digitalisierte Fotosammlung. Das „Digitale Multimediaarchiv“ wird von Dr. Thomas Weichel betreut. Alle Fotos sollen eingescannt werden und können dann digital recherchiert und zur Verfügung gestellt werden. Der große Vorteil: wertvolle und seltene Originale müssen nicht mehr aus- und eingepackt und damit in Mitleidenschaft gezogen werden. Das schützt sie vor weiterem Verfall. Laufend finden hier im Stadtarchiv Anstrengungen statt, dieses Fotoarchiv zu ergänzen. So können Besitzer historischer oder auch interessanter zeitnäherer Aufnahmen diese dem Archiv zum Einscannen zur Verfügung stellen und erhalten ihre Originale danach auf Wunsch zurück.
Hier wird aber nicht nur Vergangenes für die Zukunft bewahrt. Auch die Gegenwart wird möglichst genau dokumentiert und so wurde im Rahmen des Digitalen Multimediaarchivs damit begonnen, eine aktuelle Stadtdokumentation zu erstellen. Dabei dokumentierten die bis vor kurzem im Stadtarchiv beschäftigte Fotografin Saskia Steltner und der Historiker Dr. Thomas Weichel die Stadt und ihre Straßenzüge in aktuellen Fotografien, und auch, wenn dieses Projekt jetzt erst einmal auf Eis liegt, werden die Menschen, die in 100 oder 500 Jahren einmal wissen wollen, wie Wiesbaden anno 2000 ausgesehen hat, sich hoffentlich ein annähernd genaues Bild davon machen können.
Neben den „Pflichtabgaben“ der Dezernate und Ämter legt die Archivdirektorin besonderen Wert darauf, dass sie auch ganz einfache und scheinbar ganz profane Dinge sichern möchte. „Wir interessieren uns für fast alles“, betont sie deshalb. Es gehe oft gar nicht darum, „ob auf irgendwelchem Papier Hochwissenschaftliches steht“. Das Zeitkolorit sei entscheidend. Und genau hierzu können Veranstaltungszettel und Zeitschriften von Vereinen oder Schulen, Gemeindebriefe der Kirchen, „graue Literatur“ also, hochinteressant sein. Deshalb bittet das Stadtarchiv Vereine, Institutionen und Sachbearbeiter darum, die Mitarbeiter des Archivs zu unterrichten, ehe Unterlagen in Papiercontainer, feuchte Keller oder staubige Dachböden privat entsorgt werden. Die Mitarbeiter des Archivs holen die Unterlagen im Bedarfsfall sogar selbst ab!
Leider komme es noch viel zu häufig zu unkontrollierten Akten- und Datenvernichtungen, bedauert die Archivfachfrau. „Deshalb bringen wir uns immer wieder in Erinnerung.“ Und sie drückt ihr Missfallen über die Entscheidungen so mancher Personen aus, die sich oft in dieser Beziehung zu viel Urteilsvermögen anmaßten.
Wenig Schulklassen
Heute kommen im Tagesdurchschnitt drei bis vier Besucher ins Stadtarchiv, darunter sind Denkmalpfleger, Heimatforscher, Zeitungs- und Fernsehjournalisten genauso wie der Bürger, der die Geschichte seiner Familie erforschen oder nachempfinden will, wie der Stadtteil, in dem er heute lebt, vor 100 Jahren ausgesehen hat. „Schulklassen kommen“, bedauert Dr. Streich, „leider sehr selten“. Das liege wohl auch daran, dass das Hessische Hauptstaatsarchiv einen Archivpädagogen zur Betreuung von Schulklassen anbieten kann. Dr. Streich bemüht sich, die Schwellenangst gegen einen Archivbesuch abzubauen. „Archive sind sehr demokratische Institutionen, jeder, der ein berechtigtes Interesse hat, kann hier alles einsehen und auch unsere Bibliothek nutzen.“ Dort stehen immerhin rund 15.000 Bücher in den Regalen.
Es geht unbürokratisch zu. Der Interessent kann zunächst anrufen und nachfragen, ob zu seinem Gebiet Schriftgut vorhanden ist. Der Benutzerantrag ist schnell ausgefüllt und die detaillierte Suche in den übersichtlichen „Findbüchern“, die im Benutzerzimmer stehen und über den gesamten registrierten Bestand Auskunft geben, kann beginnen. Die Unterlagen werden dem Benutzer dann normalerweise in so kurzer Zeit vorgelegt, dass er darauf warten kann. Die Stichworte im Benutzerbuch geben Auskunft darüber, in welche unterschiedlichen Themen die letzten Gäste sich hier im ruhigen Lesezimmer vertieft haben: Kloppenheim, Sintiverfolgung, Kaspar Kögler, Eingemeindung, Hessischer Rundfunk, Rudolf Dietz, Genealogie, Flurpläne um 1900, Frauen in der Stadtgeschichte, Ortsgeschichte Frauenstein, Buchbinder in Wiesbaden, Marktplatz in Biebrich, Georg Buch, Jugendstil. Mit Sicherheit gab es zu allen diesen Themen hier im Stadtarchiv Interessantes zu entdecken.
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Im Rad 20
65197 Wiesbaden
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E-Mail: stadtarchiv@wiesbaden.de
Quelle: Wiesbadener Tagblatt, 4.9.2003