Archive sind wie «Veilchen im Moose», denn sie wachsen und blühen im Verborgenen. Das Südwestdeutsche Archiv für Architektur und Ingenieurbau (SAAI) in Karlsruhe gehört zur Gattung dieser zarten Pflänzchen. In Fachkreisen hat die der Universität Karlsruhe angegliederte Institution grosses Gewicht, aber das breite Publikum kennt sie kaum. Das soll sich ändern, denn das SAAI drängt mit Ausstellungen in die Öffentlichkeit. Der erste Schritt dorthin ist eine höchst attraktive Schau im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe. Das SAAI hat seine Schatzkammern geöffnet und entwickelt in zwölf anschaulichen Kapiteln eine deutsche Architekturgeschichte vom Barock bis zum Dekonstruktivismus. Skizzen, Zeichnungen und Originalmodelle von grossen Architekten wie Weinbrenner, Eiermann und Behnisch feiern die Architektur als «Mutter der Künste». Einige dieser Exponate sind erstmals öffentlich zu sehen. Am faszinierendsten sind die Exponate aus vergangenen Tagen, als Karlsruhe selbst durch lehrende und wirkende Architekten zu einer Hochburg der Baukultur avancierte. Wichtig in diesem Kontext sind der Klassizist Friedrich Weinbrenner (1766-1866) mit seiner Schule, Heinrich Hübsch (1795-1863), dessen lyrischer «Gottesacker»-Entwurf die Wende zum Rundbogenstil einleitete, und Friedrich Ostendorf (1871-1915). Mit seinen Brückenkonstruktionen steht Josef Durm (1837-1919) für moderne Ingenieurkunst, und Hermann Billing (1867-1946) beeindruckt mit der Schönheit plastischer, von Jugendstil und Revolutionsarchitektur inspirierter Formen.
Die zweite Ebene dieses informativen Bilderbogens ist die deutsche Geschichte: Nur in ihrem Kontext lässt sich eine «Thingstätte» von Hermann Reinhard Alker (1885-1967) richtig lesen, und nur so sind die «Tabula rasa»-Entwürfe des deutschen Wiederaufbaus nach 1945 zu begreifen. Seit 1989 hat das SAAI alle diese aus Schenkungen und Nachlässen stammenden Schätze gesammelt und sorgfältig archiviert. Anfangs passte die Sammlung gerade einmal in einen Schrank, heute dokumentiert sie mit über 200 000 Plänen, Zeichnungen und Skizzen, 100 000 Fotos, 200 Modellen und ungezählten Akten das Œuvre von mehr als 100 Architekten aus dem deutschen Südwesten. Die Bauten und Entwürfe von Egon Eiermann (1904-1970) sind hier ebenso erfasst wie die umfangreichen Arbeiten von Rolf Gutbrod (1910-1999) und von Fritz Leonhardt (1909 bis 1999), der mit seinem Stuttgarter Fernsehturm einst das deutsche Wirtschaftswunder leuchten liess. Einen weiteren Glanzpunkt der Sammlung bilden die Behnisch-Bestände, aus denen in der Karlsruher Ausstellung drei exemplarische Beispiele deutscher Baugeschichte präsent werden.
Nach Ende der Ausstellung gehen die Exponate wieder zurück in den Stammsitz des SAAI, der sich in den Flügelbauten des 1779 errichteten markgräflich-badischen Zeughauses in Karlsruhe befindet. Diese drei kleinen, im Louis-seize-Stil errichteten Gebäude sind zwar sehr schön, aber so eng, dass das Archiv aus allen Nähten platzt. Man wünscht sich mehr Raum, eine verbesserte Infrastruktur und einen erweiterten Etat. Ein neues Domizil des SAAI im «Science-Center», das die Stadt Karlsruhe anlässlich der Bewerbung zur Weltkulturhauptstadt im Jahr 2010 anstrebt, ist im Gespräch. Was fehlt, ist der Mut zur visionären, zukunftsträchtigen Tat.
Die Ausstellung läuft bis zum 16. November im Badischen Landesmuseum, Museum am Markt in Karlsruhe.
Quelle: NZZ, 3.10.2003.