Am 25. Februar 1912 schreibt Elisabeth Riehl, Tochter des 1897 in München gestorbenen Kulturhistorikers, Soziologen und Schriftstellers Wilhelm Heinrich Riehl, an den Wiesbadener Bibliotheksdirektor Dr. Erich Liesegang: „Anbei übersende ich Ihnen die erwähnten Manuskripte meines Vaters und spreche Ihnen zugleich meine Freude darüber aus, dass dieselben in der Nassauischen Landesbibliothek aufgehoben werden können. Mein Vater hing mit so großer Liebe an seiner Heimat, dass diese Verfügung gewiss in seinem Sinn ist.“
Die zitierte väterliche Heimat waren das Herzogtum Nassau und die Stadt Biebrich am Rhein, wo Riehl 1823 als Sohn des herzoglichen Schlossverwalters Friedrich Wilhelm Riehl (1789-1839) zur Welt kam und seine Kindheit verbrachte. In einer Zeit, als die Rheingasse (heute Rheingaustraße) noch „eine enge doppelzeilige Dorfstraße war, deren Häuser dem Strom den Rücken zukehrten“. Mit dieser Erinnerung beginnt Riehls Novelle „Seines Vaters Sohn“.
Im benachbarten Wiesbaden besuchte Riehl nicht nur die Lateinschule. Anfang April des Revolutionsjahres 1848 übernahm er hier für zwei Jahre die Leitung von August Schellenbergs frisch gegründeter „Nassauischen Allgemeinen Zeitung“. Ab 1854 lebte Riehl in München, wurde Professor für Staatswissenschaft sowie Kulturgeschichte und Statistik, 1883 geadelt und 1885 Direktor des Bayerischen Nationalmuseums. Außer der (heutigen) Hessischen Landesbibliothek Wiesbaden besitzen auch das Deutsche Literaturarchiv in Marbach sowie die Universitätsbibliothek und das Stadtarchiv in München jeweils Teile des Nachlasses.
Brita Zimmermann, seit 30 Jahren Bibliothekarin in der Landesbibliothek und ein guter Geist des Lesesaals, öffnet den Tresor und entnimmt ihm den Kasten mit Riehl-Handschriften. Er enthält Manuskripte von Novellen, die in den Sammlungen „Geschichten aus alter Zeit“ (1863/64), „Am Feierabend“ (1880) und „Lebensrätsel“ (1888) erschienen sind. Außerdem literarische Porträts für die „Kulturgeschichtlichen Charakterköpfe aus der Erinnerung gezeichnet“ (1891), Vorworte und Vorträge. Letztere hat Riehl teilweise zu Essays überarbeitet und als „Freie Vorträge“ in zwei Bänden (1873/85) publiziert. Vortragstitel wie „Die Leiden der kleinen Minister“ oder „Der Dilettant auf dem Landtage“ verraten den geübten politischen Journalisten.
Dem „Geist der Öffentlichkeit“ und einem bereits damals verbreiteten allgemeinen Bildungsbedürfnis entsprechend, unternahm Riehl ab den 70er Jahren regelmäßig Vortragsreisen. Die Vorträge widmeten sich der Politik, Kunst und Kulturgeschichte. Als gelegentliche Flucht des Münchner Professors „aus der gemütlichen Häuslichkeit seines akademischen Hörsaals“ und wohl auch als faszinierend weitreichende Wirkungsmöglichkeit genoss Riehl seine Vortragstätigkeit durchaus. Er habe in vierzehn Jahren „112 verschiedene Themen in 462 Wandervorträgen behandelt und in 103 deutschen Städten vor mehr als 180.000 Zuhörern gesprochen“, resümierte er 1884 nicht ohne Stolz im Manuskript zum Vorwort des zweiten Bandes „Freie Vorträge“.
Der Wiesbadener Bestand enthält ebenso einen offenbar unvollständigen oder abgebrochenen, mit „Rheinlandschaft“ überschriebenen Text, „gesprochen im Verein für wissenschaftliche Vorträge zu Crefeld am 24. Oktober 1871“. Elisabeth Riehl bemerkt im Brief an Erich Liesegang, dass ihr Vater „seine Entwürfe meistens selbst vernichtete“ und leider nicht mehr viel „von seiner eigenen Hand“ existiere. „Was noch vorhanden war, ist in keiner Weise geordnet u. es ist mühsam etwas Zusammenhängendes herauszufinden.“
In der Sammlung „Kulturgeschichtliche Charakterköpfe“ erschien Riehls „Idylle eines Gymnasiasten“. Die in seiner Handschrift vorliegende Geschichte erinnert an die Nassauer Jugendzeit, die er in Weilburg/Lahn verlebte: „An der Spitze des Weilburger Gymnasiums stand 'zu meiner Zeit• der Oberschulrat und Direktor Friedrich Traugott Friedemann, eine höchst merkwürdige Erscheinung.“ Der Charakterkopf Friedemann (1793-1853) war später Archivdirektor in Idstein. Die Hessische Landesbibliothek bewahrt auch von ihm Manuskripte auf, sozusagen in idyllischer Nachbarschaft des einstigen Schülers.
Riehls volkskundlich-soziologische Untersuchungen und Theorien, die er in seiner „Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik“ (1851-1869) veröffentlichte, waren schon zu seinen Lebzeiten umstritten und blieben es bis heute.
Quelle: Wiesbadener Tagblatt, 12.09.2003